Kampfspiel frierender Seelen

■ Kammerspiele: Eröffnung des Nachwuchs-Festivals „Die Wüste lebt!“ mit dem Philip-Ridley-Stück „Der Disney-Killer“

In den Falten des kapitalistischen Brokat suchen Theaterautoren und -regisseure gerne die Figuren, deren Unfähigkeit zu funktionieren ihrer Meinung nach weit mehr über unsere Gesellschaft aussagt, als die Heldentaten sogenannter Siegertypen: Verrückte, Verwirrte, Isolierte, Menschen, die sich ihre virtuelle Realität im Kopf geschaffen haben, weil die Anforderungen der Geld-Gesellschaft ihre Seele verschattet haben und sie nun frieren. Da helfen wärmende Geschichten und Phantasiegebilde eine Zeit – und dann gibt es auch noch die Medizin.

Sowohl Haley als auch Presley konsumieren von beidem gehörig. Ihre Phantasiewelt ist die post-atomare Wüste, in der sie alleine übrig sind; ihre Medizin sind Seditativa ohne Kenntnis der auf der Packungsbeilage empfohlenen Dosierung. Kommt die Angst, die das inzwischen 28jährige Zwillingspaar nach dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren befallen hat, wird betäubt. Cosmo Disney, der plötzlich in diese Welt einbricht, demonstriert das Gleiche im Anderen. Er verdient viel Geld, indem er in Kneipen Kakerlaken ißt und das entstellte Gesicht seines geistig verwahrlosten Kollegen Mistgabel Cavalier unter der Tüte hervorholt. Auch Cosmo ist ein Vollwaise, der nur durch eine absurde Philosophantasie überlebt, und so verstehen sich er und Presley instinktiv, aber nicht tatsächlich. Denn die gegenseitige Störung für stabil gehaltener Systeme führt selbstverständlich zur Katastrophe.

Nicolas Stemann hat Philip Ridleys Der Disney-Killer, diese bizarre Geschichte um Angst, Sehnsucht und die Entstehung von Zerstörung, im Stil eines Jugendtheaterstücks inszeniert und jetzt im Rahmen des Nachwuchs-FestivalsDie Wüste lebt! in den Kammerspielen zur Hamburg-Premiere gebracht. Auf einer schrägen Bühne aus Kunstgras agieren die manische Haley (Judith Huber), der melancholische Bruder Presley (außergewöhnlich überzeugend gespielt von Jerzy Kosin) und der so egozentrische wie homophobe Insektenvertilger Cosmo (Rainer Süßmilch) das Spiel des Verbergens und Eröffnens der eigenen Geheimnisse aus.

Stemanns Regie gelingt es dabei – von einigen Längen abgesehen – sowohl das oft rührende Kampfspiel des Kennenlernens zwischen Cosmo und Presley wie das Umklappen durch das Auftreten des „Monsters“ (Thomas Witte) zu vermitteln. Zwar kann sich die mysteriös-beklemmende Atmosphäre, die der Text entfaltet, durch die „jugendliche“ Art des Schauspiels nicht so richtig aufbauen, aber Stemann erzählt die Geschichte dennoch spannend und durchaus unterhaltend. Ein vielversprechender Anfang für das zehntägige Festival, das heute mit der Aufführung von de Mussets Die Capricen der Marianne fortgeführt wird (20 Uhr).

Till Briegleb