■ Nachschlag
: Schwesternwahnsinn: Tschechow bei den Westlichen Stadthirschen

Da stehen sie und können nicht anders. Das Stück ist längst abgespielt, und in den 95 Jahren seit der Uraufführung von Tschechows „Drei Schwestern“ hatten die restlichen Figuren genug Zeit, sich passende Alternativen zu suchen. Doch Olga, Mascha und Irina können nicht abgehen. Sie wollen schließlich nach Moskau, und Moskau ist überall, wo sie nicht sind. Also bleiben sie stehen. Ein wohlmeinender Inspizient hat sie mit Plastikfolie überzogen, aber einmal im Jahr (oder jeden Abend?) gelingt es ihnen, hervorzuschlüpfen, und alles beginnt für sie von vorn.

Auch wenn die 29jährige Regisseurin Nina Tanneberg das Drama um die lebenswehen Schwestern in ihrer Seelenprovinz nicht wirklich als Endlosschleife inszeniert hat – als Wiedergängerinnen zeigt sie sie auf jeden Fall. „Nach Msskau“ zischen sie ekstatisch und wiegen beeindruckende Perücken. Das mit dem Leben haben sie irgendwie falsch verstanden, was man schon an den links herum getragenen Kostümen merkt, und übersprungsweise versuchen sie es also mit kauziger Betriebsamkeit. Immerzu haben Ursula Stampfli, Heike Amend und Heike Hanold-Lynch etwas herumzupusseln: Sie schnippeln Papierstreifen, befingern meterlangen weißen Stoff, polieren Ästchen oder stecken sich die längst vertrockneten Birkenblätter gleich ganz in den Mund. Tschechow goes Zwangsneurose. Warum nicht? Bei Tanneberg ahnt man ein Gespür für die Hölle der Kleinteiligkeit, und ihre aufgedonnerten, verstaubten Ophelien läßt sie eine Zeitlang mit Charme und Selbstironie umeinander kreisen.

Doch allzubald verfällt die Regisseurin selbst der Pusselei. Die Textfragmente ihrer Fassung können das Stück nicht erzählen, etwas wirklich anderes, nur den selbstverschuldeten Schwesternwahnsinn Betreffendes, entsteht aber auch nicht. Und als einmal eine Stimme von außen zu Olga spricht, straft Tanneberg das Gespinst von Erinnerungsfetzen gar Lügen. Später öffnet sich der Vorhang, der das Neurosennest zunächst begrenzte, in der Tiefe der Bühne zieht eine Modelleisenbahn ihre Kreise, die drei leuchten sich mit Taschenlampen an und drücken sich wie Hobbybotanikerinnen im Gebüsch der Zweige und Stoffbahnen herum. Doch auch dort finden sie den verlorenen Ansatz der Regie nicht wieder. Petra Kohse

Bis 28.7., Mi.-So., 21 Uhr (Dauer: 1 Stunde), Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstraße 37