Zug Richtung Grenander

Nach 70 Jahren ist der Bahnhof Hermannstraße vollendet: Endstation des Berliner U-Bahn-Baus und der Serie „Orte im Wandel“  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Ein Loch im Boden. Der Luftstrom saugt mich an. Der Untergrund verschluckt mich. Ein Kreischen zerreißt die Melancholie. Ein gelber Blitz schießt aus dem Tunnel, kommt unter Mühen zum Stehen. Massen tauschen sich aus, spülen mich auf einen Sitzplatz. In einer Sinfonie schräger Töne und blinkender Lichter schnappen die Türen zu. Das gelbe Gefährt schlägt auf die Schienen ein. Ich verharre, während sich die Welt in Geschwindigkeit auflöst...

Die U-Bahn. Zur Jahrhundertwende, als sich der Siemenskonzern daranmachte, ein neues Verkehrsnetz über die Stadt zu legen, war man weniger berauscht. Die nackte Stahlkonstruktion der Hochbahn, mit der die Ingenieure statischen Notwendigkeiten entsprochen hatten, galt als häßlich. Das neureiche Bürgertum, in dessen Gemeinden die ersten Linien führen sollten und von dessen Unterstützung das privatfinanzierte Unternehmen abhing, war nicht bereit, diesen „ärmlichen“ Anblick zu akzeptieren. Es verlangte „echtes“ Material und einen dem eigenen Reichtum angemessenen „Stil“. So entzog man die Bahn der ästhetischen Kritik und verlegte sie in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg unter die Erde. Architekten dekorierten die neue Bauaufgabe mit alten Formen: So Hans Grisebach und August Dinklage, die die verwinkelte Haltestelle Schlesisches Tor 1905 als Renaissance-Schloß gestalteten, oder Wilhelm Leitgebel, der die Station Heidelberger Platz 1911 in ein gotisches Gewölbe verwandelte. Ohne Zweifel repräsentativ, nur die Züge wirken wie Fremdkörper.

Daß die Berliner U-Bahn zu einer ihr eigenen Bauform fand, verdankt sie Alfred Grenander. Zwischen 1899 und seinem Tod 1931 entwarf er über 70 Stationen. Schon an den Eingängen läßt sich sein Werdegang ablesen: vom Historismus zu einer immer reduzierteren, feineren Sprache. Die zahllosen Stahlprofile, die sich noch 1902 am Zoo zu einem Jugendstilportal verschlingen, haben sich 20 Jahre später an der Französischen Straße zu einem Bogen vereinigt. Sein einziger Schmuck sind die Nieten, die das Kastenprofil zusammenhalten. Paßt es sich hier noch unter Mühen dem zehnzackigen Leuchtschild an, hat Grenander 1928 seine Form gefunden: Am Bahnhof Voltastraße beschreibt ein mächtiger Doppel-T-Träger schlicht ein umgedrehtes U.

Weniger ist mehr gilt für seine Bahnhöfe. Am besten erhalten sind die Stationen der U 8 südlich des Gesundbrunnens, welche die Mauer dreißig Jahre vor Veränderung bewahrte. Mit Ausnahme von Voltastraße, Bernauer Straße und Moritzplatz, die vom AEG-Architekten Peter Behrens stammen, sowie der Boddinstraße, den das Bauamt Neukölln errichten ließ, wurden sie allesamt Ende der zwanziger Jahre von Grenander entworfen. Während die Berliner Bauweise mit der unmittelbar unter dem Pflaster gelegenen Bahn die Raumstruktur eines schmalen, niedrigen Schachts bereits vorgab, verlieh Grenander dem Haltepunkt durch schlichte Elemente die angemessene Ruhe. Im Zug verkehrt sich das ins Gegenteil: Die gleichbleibenden Intervalle aus Stützenreihen, Deckenleuchten und Stationsschildern betonen die Bewegung. Die Stationselemente fliegen rhythmisch vorbei, man spürt Bremsen und Beschleunigung, Tempo und Richtung, eben Geschwindigkeit! Dieses einheitliche Prinzip gilt für alle Bahnhöfe. Sie unterscheiden sich im wesentlichen durch ihre Kennfarbe. Nicht der einzelne Haltepunkt ist das Besondere, hervorgehoben wird das Netz, das die Metropole zwischen Ku'damm und Rudower Feldflur zusammenhält.

Ende der sechziger Jahre wurden die Weichen neu gestellt. Rainer G. Rümmler wurde Chefarchitekt der Senatsbauverwaltung. Seine Stationen, auf der U 7 westlich des Mehringdamms und die Verlängerung der U 8 ab Gesundbrunnen, verraten ein neues Leitbild. Rümmlers Ziel war die Unverwechselbarkeit jedes Bahnhofs. Den Netzzusammenhang ersetzte er durch den Bezug zum Ort. In freier Assoziation zum Stationsnamen dekorierte er den Rohrdamm mit Rohren, die Paulsternstraße mit Sternen, die Osloer Straße mit den entsprechenden Nationalfarben, das Paracelsusbad mit mittelalterlichen Badeszenen. Rund vierzig Haltepunkten Einmaligkeit zu geben führte zwangsläufig zur Hochrüstung: Stützen wurden meterdick, um sie profilieren zu können. Rümmler ersann güldene Papierkörbe, Leuchten als symbolhafte Sonnen und und und... Doch die Taktik war zum Scheitern verurteilt. Denn für die BVG ist laut Beförderungsbedingungen das Betreten eines Bahnhofs „nur zum sofortigen Fahrtantritt“ gestattet. Minikiosk und Kunst auf Werbetafeln können da nicht mehr sein als Alibiveranstaltungen. Selbst der aufwendigste Bahnhof bleibt ein Ort des Vorübergehens.

Ab 13. Juli kann man eine erneute Kehrtwendung besichtigen: den Bahnhof Hermannstraße. Auf Initiative des ehemaligen Senatsbaudirektors Hans Stimmann orientierte man sich für den letzten Halt der U 8 wieder an Grenander. Bereits in den zwanziger Jahren hatte er den Anschluß der U 8 an die Ringbahn geplant: Zwanzig Meter des Bahnsteigs und die nördlichen Zugänge waren bereits im Rohbau fertig, als die Weltwirtschaftskrise die Arbeiten zum Erliegen brachte. 66 Jahre später ist aus diesem historischen Einschnitt eine Fuge geworden, die den Bahnhof an eben jener Stelle durchschneidet, was jedoch nur wissende Augen bemerken werden, denn die Ausstattung ist auf beiden Seiten gleich modern. Wie beim großen Vorbild bestechen die Wände durch ihre Lichtwirkung. Verwendete Grenander noch glasierte Keramikplatten, um mit nur einer Grundfarbe ein unendlich reiches Farbspiel zu entfachen, kann der polierte Feinstein der Hermannstraße die Wirkung noch steigern: Die glasigen Kacheln weiten die niedrige Halle, tauchen das Halbdunkel des Untergrunds in ein sphärisches Leuchten. Der einfahrende Zug scheint auf seinem schmalen Lichtkegel zu schweben. Der kraftvolle Kontrast der gelben Wagen vor tintenblauer Wand läßt die Luft vibrieren. Leider bestand die BVG darauf, die elegante Oberfläche mit ihren neuen Multiinformationstafeln zu behängen, obwohl die alten Stationsschilder mit ihren weißen Bauhaus-Lettern auf schwarzem Grund an Eleganz und Lesbarkeit nicht zu übertreffen sind.

Der Bahnhof Hermannstraße ist ein Endpunkt in vielerlei Hinsicht: Nicht nur die Linie 8 endet hier, auch das Schaffen von Rainer G. Rümmler. 1995 ging er nach über dreißigjährigem Schaffen in Pension. Die postmodern protzenden Leuchten und Dachgebilde an den südlichen Ausgängen sind die letzten Relikte seiner ungebremsten Phantasie. Für die geplante und zum Teil schon im Bau befindliche U 5 zwischen Alexanderplatz und Lehrter Zentralbahnhof sollten international renommierte Stararchitekten wie Max Dudler, Richard Rogers oder Axel Schultes seine Nachfolger werden. Doch die Dichte, die das Netz in den letzten hundert Jahren in der Innenstadt erreichte, lassen den Parallelbau zur Stadtbahn entbehrlich erscheinen, zumal die Kosten der unterirdischen Bauweise die Möglichkeiten des Gemeinwesens bei weitem übersteigen. Ebenso ist es außerhalb der Stadt, etwa zwischen Rudow und dem Flughafen Schönefeld, nicht mehr sinnvoll, den öffentlichen Nahverkehr in den Untergrund abzudrängen. Für größere Distanzen, das zeigt die Reise von Rudow nach Pankow, ist die U-Bahn durch ihr häufiges Halten ohnehin zu langsam. So ist für das Verkehrssystem U-Bahn an der Hermannstraße Endstation. Weiter geht's nur mit der S-Bahn.