Die berufstätige Frau und andere Mitbürger

■ Als könne nur das Graue die Wirklichkeit des Dargestellten garantieren: Mensch- und Stadt-Fotografien seit 1965 von Michael Schmidt in der Berlinischen Galerie

Am schönsten ist der Martin- Gropius-Bau im Sommer. Dann hat man das riesige Gebäude fast ganz für sich allein, und es ist sehr still, so daß man das Knarren des Bodens bei jedem Schritt hört und die Klimaanlage. Ohne die künstlerischen Weltprominenzen sind die Räume plötzlich sehr angenehm. Unspektakuläres dominiert, wie die kargen Schwarzweißfotos des Berliner Fotografen Michael Schmidt, die in der Berlinischen Galerie noch bis September zu sehen sind.

Der 1945 geborene Autodidakt, der dem erlernten Polizistenberuf mit der Fotografie entfloh und Mitte der siebziger Jahre die Fotowerkstatt an der Kreuzberger Volkshochschule gründete, wurde bekannt durch seine immergrauen Stadtteillandschaften (Wedding, Kreuzberg) und Alltagsmenschenporträts.

In seinen Porträtserien (u.a. „Das Alter“ oder „Die berufstätige Frau“) bemühen sich die fotografierten Frauen und Männer, ein individuelles Bild von sich zu entwerfen. Wenn sich Schmidt auf die Gesichter beschränkt, dominiert die faltige Haut etwa. Am interessantesten ist es, wenn sie in ihren irgendwie trostlosen Kleinfamilienwohnungen oder an ihrem Arbeitsplatz posieren. „Ich ordne mich den zu fotografierenden Dingen völlig unter“, sagt Schmidt, und „der Mensch als Persönlichkeit“ sei „das Wesentliche“.

„Kontaktlosigkeit und die Sehnsucht zu gefallen, verhärtete Familienstrukturen und neugieriges Nichtverstehen, der Wunsch nach Individualität und der Versuch, Haltung zu bewahren, teilen sich uns in Gesichtszügen, Gestik und Kleidung mit“, schrieben Gabriele und Helmut Nothelfer anläßlich einer früheren Ausstellung.

Ab und an denkt man an August Sander oder DDR-Fotografen. Karl Pawek, der 1977 die „Weltausstellung der Fotografie“ organisierte, sah in Schmidts Bildern „die kunstlose Wirklichkeit“. Die Bilder zeigten „das Ästhetische an faktischen Dingen, wie sie in unseren Straßen, Höfen, Wäldern herumstehen“. Wenn Schmidt die klaren Linien einer kargen, in seinen Bildern fast immer menschenleeren Architektur der 50er und 60er Jahre dokumentiert, wirkt das so nüchterntrostlos wie verhalten melancholisch. Gibt es mal Himmel, so ist er grau, als könne nur das Graue die Wirklichkeit des Dargestellten garantieren.

Tagsüber sei es im Gropius-Bau noch viel leerer als jetzt, sagte die Frau an der Garderobe, und daß ihr doch oft langweilig sei. Es gebe eben nur die Extreme – entweder gerammelt voll oder total leer. Draußen regnet es. Dann gibt es einen Regenbogen. Detlef Kuhlbrodt

„Michael Schmidt – Photographien seit 1965“; noch bis zum 8.10.96 in der Berlinischen Galerie im Martin-Gropius-Bau, Stresemannstraße 110