Genese des „Gußlipizzaners“

■ Nabe der Welt, Speichen der Zeit: Von den epochalen Geburtswehen der pedalierenden Vorwärtsbewegung

Jüngst entschlüsselte Hieroglyphen beweisen, daß schon der Ägypter der blauen Periode (um 3000 v. Chr.) zwei Räder kannte – doch wird zwischen den Zeichen auch darüber Klage geführt, daß er im Grunde nicht viel damit anzufangen wußte. Zwei Jahrtausende sollte es dauern, ehe ein gewitzter Kamelsattelhersteller aus Memphis die rundlichen Scheiben im Speicher von Tuts Pyramide aufstöberte und mit einem Rahmen versah, auf dem er einen seiner Patentsättel montierte.

An ein zügiges Fortkommen auf Altägyptens Wüstenpisten war allerdings nicht zu denken: Das Fehlen einer wirkungsvollen Antriebsquelle – die Sklaverei war gerade abgeschafft, das Pedal noch nicht erfunden – machte sich doch zunehmend bemerkbar. Und auch der Einsatz von mannsgroßen Messinggongs als Warnsignal erwies sich im Menschengewimmel der orientalischen Basare als wenig praktikabel.

So blieb es den Holländern vorbehalten, das Fahrrad zu einem Vehikel erwachenden Bürgerstolzes zu machen. Die Käsehändler aus Edam waren es gegen Mitte des 16. Jahrhunderts endgültig leid, tagtäglich ihren Käse zum Bahnhof zu rollen. Sie verbanden zwei mittelalte Gouda-Laibe mit einem Holzgestänge und damit das Angenehme mit dem Nützlichen. Der sprichwörtliche Sitzkomfort der Hollandräder hat sich bis in die heutige Zeit gehalten. Doch auch dieser Vorläufer unseres Fahrrads kannte noch keinen Kettenantrieb: Die Fortbewegung erfolgte durch schwungvolles Anschieben und Aufspringen. Allein der enorme Rollwiderstand sorgte für einen übergroßen Abrieb der Räder.

Als Jan Triedel d.Ä. einmal nach halsbrecherischer Fahrt am Bahnhof anlangte, um den 5-Uhr- Zug nicht zu verpassen, war von seinen Rädern nur noch etwa die Hälfte übrig – sein Bruder Jan Treidel d.J. hatte versehentlich jungen Gouda montiert...

Erst als August Wenz vor 150 Jahren am Ortsrand von Tuttlingen die Speichen der Zeit erkannte und tags darauf daranging, die primitiven Schieberäder mit Kettenantrieb auszustatten, war die pedalierende Vorwärtsbewegung geboren. Noch ahnte er nicht, welchen Siegeszug sein „zweirädriger Selbsttreter“ im Regelkreis Mensch–Verkehr–Umwelt später einmal erleben sollte. „Stahlroß“, „Eisenhengst“, „Zinkmähre“, „Gußlipizzaner“, „Erzesel“ – allein die kleine Auswahl der liebevollen Namen, mit denen Wenz „sein“ Fahrrad im Laufe seines schaffensreichen Tüftlerlebens belegte, mag deutlich das galoppierende Maß der Entfremdung des Menschen vom Rücken animalischer Fortbewegungsmittel anzeigen, mit der wir spätestens seit Wenz' epochaler Erfindung zu leben haben.

Das Ausgeliefertsein des modernen Menschen an den Moloch Technik, sein blinder, magischer Glaube an die wohltätige Wirkung von 21-Gang-Schaltung und Hyperglide macht uns schmerzlich bewußt, daß jene ganglosen Tage der heiter-beschwingten Tretkultur, die der unbekannte Ägypter verheißungsvoll eingeläutet, der Holländer so schwungvoll vorwärtsgetrieben und August Wenz so trittfreudig vollendet hatte, wohl unwiederbringlich vorbei sind. Vom Chinesen müssen wir an dieser Stelle leider schweigen. Rüdiger Kind