Der verlorenen Subversion auf der Spur

Kopenhagen ist dieses Jahr als „Europäische Kulturhauptstadt“ dran. Jenseits von Tivoli, Meerjungfrau und Tuborg-Brauerei gilt sie auch als die Homo-Kapitale des alten Kontinents. Ein Verbrauchertest  ■ Von Jan Feddersen und Alexander Heinz

So sitzen wir denn im „Sebastian“. Draußen scheint die Sonne, die Temperatur ist frühsommerlich. Ein bis Mitternacht geöffnetes Kaffeehaus an der Hyskenstraede, mitten im Shopping-Viertel der dänischen Hauptstadt. Niemand nimmt von uns Notiz. Etwa 50 Männer und Frauen verteilen sich auf den zwei Etagen des Etablissements. Einige spielen Billard, andere legen Patiencen oder klönen, manche lesen Zeitung. Alte und Junge. Schöne Prinzen und häßliche Entlein. Alle schwer beschäftigt. Mit sich. Nicht mit uns.

Keine lauernden Blicke, kein Sex liegt in der Luft. Die erotischen Schwerkräfte wirken hier etwa so intensiv wie in einem Paderborner Volkshochschulkurs im Vollkornbrotbacken. Nichts deutet darauf hin, daß wir uns im beliebtesten Homotreffpunkt Kopenhagens befinden. „Bestimmt alles glücklich verheiratete Paare“, flüstere ich der Heinz zu. Die murmelt, gewohnt altklug: „Ein armes Land. Mit geknechteten Leuten. Langweilig und monogam. Das ist die Strafe für die Gleichstellungspolitik – die sind einfach so befreit hier, daß es keinen Spaß mehr macht.“

In dem Land, in dem Schwule und Lesben heiraten dürfen, wenn auch nur zivilrechtlich, scheint von Subkultur keine Spur mehr, geht die Subversion, die segensreiche und patriarchatszersetzende Kraft der Vielvögelei mit vielen offensichtlich im Einerlei des alles Erlaubten unter, so geht die Fama in deutschen Landen. Wo demnächst sogar Adoptionen seitens Homosexueller möglich sein sollen. Unruhig blättern wir in unserem Reiseführer, wie immer also im bewährten „Spartacus Gay Guide“. Der preist Kopenhagen als die gleichgeschlechtlich orientierte Metropole Skandinaviens. Und Kopenhagens Bürgermeister gibt sogar damit an („We love Euro Pride“), dieses Jahr als Europas Kulturhauptstadt auch die Kapitale der Homosexuellen des alten Kontinents zu sein. Aber was heißt das schon? Ist nicht jedes Land verdächtig, in dem Homos ungefähr die gleichen Rechte genießen wie Heteros? Schweden sowieso, aber auch Norwegen, die Niederlande?

Beweist nicht Stockholm, daß fehlende Diskriminierung auch eine Austrocknung der schwulen Piste nach sich zieht, ja, das Dasein als Homosexueller verlangweilt? Deutsche Touristen berichten von dort schlimme Sachen: kaum Publikumsverkehr in den Parks, keine öffentlichen Bedürfnisanstalten, keine Dunkelräume, nur öde Herren mit Krawatten unterm burgunderfarbenen Pullunder, Männer, die verehelicht wirken und es am Ende auch noch sind. Kopenhagen – das kann nur den Freizeitwert von Emden haben, aller schönen, reichen, sehr gediegenen Architektur zum Trotz.

Von solchen Vorahnungen umtrieben, treten wir den Weg vom Bahnhof ins Hotel an, nur einen kurzen Zwischenstopp im „Copenhagen Gay Center“ einlegend, im vielversprechend schmuddeligen Vesterbroviertel am Bahnhof gelegen: Tivoli, Kleine Meerjungfrau, das Haus von Fräulein Smilla, Christiania, Tuborg-Brauerei, Königin Margrethes Schloß gleich am Rathausplatz haben wir so nebenbei in drei Stunden erledigt, wie auch das Schweinebratenessen mit Kruste – man reist ja schließlich nicht der Sehenswürdigkeiten wegen irgendwohin.

Statt dessen – ein Badehaus mit angeschlossenem Pornokino. An schwarz getönten Fensterscheiben vorbei besteigen wir über eine Steintrepppe das Allerheiligste, was eine schwule Subkultur bieten kann: eine Sauna. „Das ist der Lackmustest in Sachen Subversion“, hatte mir die Heinz zuvor geschworen. Erste Zweifel kommen in uns hoch. Wenn die Dänen keinen Unterschied zwischen Homos und Heteros machen, warum gibt es hier nur für Männerherzen einen solchen Tummelplatz der sexuellen Avancen?

Doch so schnell lassen wir uns unsere Vorurteile nicht nehmen: „Bestimmt für die wenigen Ewiggestrigen, die nicht mehr von Unterdrückung auf Befreiung umschalten können“, analysierte ich knapp, auf das gammelige Ambiente hindeutend, gedämpftes Licht, braun in braun, die Wände dabei mit süßlich-miefigem Velours tapeziert.

Neugierig tapsen wir eine Etage hinab, bereit, eine Art Museum der erotischen Spielarten vorzufinden, ein sozialdemokratisches Gruselkabinett, in dem hinter jeder Ecke ein Sexpolizist steht, allzeit „Bitte-nichts-Unsittliches!“ mahnend.. Herr Heinz zählt die abgeschlossenen Garderobenschränke. „Ganz schön voll“, meint er anerkennend, doch mit unverhohlener Enttäuschung in der Stimme, während er sich hastig seiner Textilien entledigt.

Ich treffe derweil, eine Spur eiliger aller Kleidung entledigt, in der hell erleuchteten Schwitzkabine ein. Hitze? Nun, das Thermometer zeigt 43 Grad. Der Heinz fällt später Herbert Wehner ein: „Die Dame saunt gerne lau.“ Wie dem auch sei: Auf den Holzbänken sitzen drei Herren und fummeln aneinander herum. Sie lassen sich durch nichts stören, auch nicht durch neu hinzukommende Gäste. Der eine, Typ Fernfahrer auf zweitem Bildungsweg, sagt so nebenbei: „Komm doch rüber, wir haben's nett hier.“

Später frage ich ihn, weshalb er denn einen Cockring trage. Da antwortet er in schönstem Vivi-Bach- Deutsch: „ßonst krich' ich immer ßo ßnell 'n ßlappen ßwanz.“ Das nennt man praktisch gedacht und fit for fun. Er heißt Jörgen, zählt 39 Jahre und ist Reedereikaufmann. Er fragt, ob ich verheiratet sei. „Nein“, rufe ich entrüstet, „ich bin schwul!“ – „Jäää, das glaube ich, aber ich meinte, ob du mit einem Mann ßußammen bist?“ Er sei es, „das ist schön zu zweit“, aber manchmal müßte er was „anderes haben“, sie würden aber nicht „drüber ßprechen“, das „macht ßonßt Kummer“.

„Erschütternd normal“ findet die Heinz diese Geschichte eine Stunde später in unserer Herberge, wo nachts um eins auf speziellen Wunsch Heteropornos angeboten werden („Sie brauchen nur zu fragen!“), auch solche mit Homobesetzung. Unsere empirische Wanderung bekommt Fleisch ans Skelett und ganz leise eine falsche Richtung. Die Heinz, seit kurzem mit einem Avantgardefrisör liiert, wird im Lederschuppen „Men's Bar“ in der Teglgardsstraede geparkt: „Sei tapfer, altes Mädchen“, rufen wir uns noch gegenseitig zu. Dann gehe ich in „Örsteds Park“, eine Grünanlage mit zwei größeren Ententeichen und ansprechend verwinkelten Wegen.

Natürlich wird hier nichts los sein, denke ich. Wo es keine Unterjochung gibt, braucht sich auch niemand mehr in dunklen Parks herumzudrücken. Im Hotel hatte mir die Heinz noch bei Kaffee und Gebäck („Kransekager“) glasklar den Standpunkt der Ehefeinde erklärt: „Die Homoehe ist die subtilste Form der Unterdrückung des Homos durch den Hetero“, hatte er doziert, als verläse er gerade das Kommunistische Homo-Manifest. Das sei der Trick der Herrschenden: Wo alles erlaubt sei, ginge jede selbstbestimmte Lebensform hoffnungslos unter, „ich betone: hoffnungslos“.

Absorbiert von der Spießigkeit bürgerlicher Wertvorstellungen. Jedenfalls ganz fies. Trotzdem stehe ich nach diesem soziologischen Proseminar ratlos zwischen Bäumen und Gebüschen und sehe schemenhaft, was es der Heinz zufolge gar nicht geben kann: Suchende Gestalten zeichnen sich in der Finsternis ab. Hinter einem Pavillon schmusen zärtlich ein Punk und ein Anzugträger, dessen Krawatte – friedlich an einem Ast abgehängt – vor sich hinweht.

Aha. Ich werfe meine ohnehin nicht gut begründeten Zweifel über Bord und gucke etwas genauer umher. Auf der Bank neben mir hat sich ein mittelschwer gebautes Exemplar der dänischen Bevölkerung aufgebaut, blonder Schnäuzer, (vermutlich) blaue Augen, goldener Ring am rechten Zeigefinger. Er stellt sich noch eben als Per vor, ehe wir die seltsame Punker-Banker-Affäre hinter dem Häuschen ablösen. So zwischen zwei Akten erzählt der 34jährige Angestellte des Elektrizitätswerks, daß er frisch geschieden sei und „nun nach etwas Neuem“ gucke. „Ich will ja nicht alleine alt werden.“ Muß er nicht, jedenfalls nicht heute nacht. Man hat ja Verständnis.

Arm in Arm verlassen wir den Park. Überhaupt fällt auf, daß in Kopenhagen Männer sich mehr berühren als anderswo, auch Frauen haben offenbar keine Scham, sich als Liebende oder Turtelnde zu zeigen. Macht es da Probleme, wenn Per findet, „daß man über ßolche ßachen bei uns nicht mehr ßo nachdenkt“? Dann sagt er noch, daß man überall Männer kennenlernen könne, „auf der ßtraße oder in Lokalen, die nicht vorwiegend für ,bösse‘ sind“. Auch auf der „Weihnachtsfeier meines früheren Freundes konnte man flirten“. Da war er selbstverständlich mit eingeladen, was wiederum seinem Gatten am Ende nicht behagte, weil das mit dem Flirt nicht beim Flirt blieb. Also auch bei Homos in Dänemark: Ehe- und Scheidungsalltag inklusive aller Highlights des Beziehungslebens.

Anderntags im Frühstücksraum des Hotels: Die Heinz erzählt, nur eine Stunde geschlafen zu haben, es schimmert so eine Art Stolz in der Stimme mit: „Die dänischen Elsen können saufen, das ist unglaublich. Die ganze Nacht über Königin Margrethes entlaufenen Hund gesprochen – das hat was. Auch ohne Sex.“ Unglaublich. Als die Gute die „Mens's Bar“ verlassen will, gibt es noch einen Zwischenfall. Eine Frau von der gegenüberliegenden Kneipe baggert die kluge Seele an: „Sei doch einmal nicht homosexuell, okay? Nur für mich. Ist doch alles möglich.“

Die Heinz weiß sich mit einem souveränen „Nej tak“ zu behaupten und singt statt dessen „Vi maler byen röd“ (etwa: „Wir hauen heute auf den Putz“), einen Schlager von Birte Kjaer, frisch gelernt, weil dauernd aus der Musikbox lärmend, lauthals mit, so daß sogar die beiden Streifenpolizisten ihn ermahnen müssen: „Sing wenigstens richtig! Und nicht so laut!“

Per und ich schreiben uns seither. Er wird wieder heiraten, im Januar, und zwar einen Müllwerker aus Helsingör: „Ich finde es allein das ganze Jahr über nicht so unterhaltsam“, steht in seinem letzten Brief. Auf die Weihnachtsfeier soll er auch schon mitkommen.