Hippieesker Feudalismus

Vollgepackt mit Warenfetischen und Debatten, die keiner mehr versteht: Der „Spiegel“-Verlag und Gruner+Jahr wollen den Cyber-Katechismus „Wired“ adaptieren – doch Deutschland ist nicht die Westcoast  ■ Von Ulrich Gutmair

Wie immer begann alles mit Science fiction. Anfang der achtziger Jahre verdichteten sich Milieubeschreibungen der Menschen an den Rändern des Hi-Tech-Kapitalismus und das Leben mit den neuen Informationstechnologien zu einem Genre, das noch heute für millionschwere Hollywoodproduktionen ausgeschlachtet werden kann: Die Cyberpunks der amerikanischen Westküste imaginierten eine Welt, die von multinationalen Konzernen kontrolliert wird. Sonnenbebrillte Datencowboys reiten durch die virtuellen Räume des Cyberspace. Die mythische Grenze des Wilden Westens war als electronic frontier in den Kosmos der Bits und Bytes vorangetrieben worden.

Der Cyberspace ist der Raum zwischen zwei Telefonanschlüssen, bemerkte Science-fiction-Autor William Gibson einmal und beschrieb die Realität der globalen Netze damit allen Mythen zum Trotz zutreffender, als sich Westeuropäer das vorstellen können. Die versuchen immer noch, das Phänomen mit skurrilen Wortschöpfungen wie der „Datenautobahn“ einzufangen. Kein Wunder, daß nicht nur kalifornische Freaks seit vier Jahren jeden Monat die neueste Ausgabe des offiziösen Organs der Digitalen Revolution erwarten: Wired überzieht noch die trockenste Ausführung über den Stand der Dinge in Sachen Computertechnologie, Kybernetik und Telekommunikation mit einem Hauch von Glamour und verstand es auf dem Weg von der Fiktion zur Realität hohen journalistischen Standard mit einer quasi- anarchistischen Grundhaltung zu verbinden.

Wired Ventures sind auf Expansionskurs; nach japanischen und englischen Ausgaben sind weitere außeramerikanische Projekte geplant. Und wie es aussieht, sind die Deutschen als nächste dran. Werner Klatten von a+i, der Multimediatochter des Spiegel-Verlags, und Andreas Schmidt, Chefredakteur von TV Today, kehrten vor kurzem von Verhandlungen aus San Francisco zurück. „Wir wollen kein weiteres Computermagazin machen, sondern ein Blatt, das sich mit der digitalen Revolution und all ihren gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten beschäftigt“, sagt G+J-Zeitschriftenvorstand Rolf Wickmann. Dafür soll in den nächsten Monaten in Berlin eine Redaktion entstehen. Siemens ist nicht Silicon Valley, und die virtuelle Klasse, deren Mitglieder sich als Einmannunternehmen in amerikanischen Multimediakonzernen verdingen, konstituiert sich hierzulande erst langsam. Doch die jeweils 25prozentigen Gesellschafter G+J und Spiegel bauen auf den Kultcharakter von Wired als Erfolgsgarant. Obwohl mit Pl6net bereits seit einem halben Jahr ein Magazin auf dem deutschen Markt erscheint, das sich den kulturellen Nebenwirkungen der globalen Netze widmet und damit eine ähnliche Leserschaft anspricht. Die Macher dieses im Ziff-Davis-Verlag erscheinenden Monatsmagazins begreifen ihr Produkt bereits jetzt als die kritische Alternative zum Ableger aus Kalifornien.

Der auch von anderer Seite immer wieder zu hörende Vorwurf, inzwischen allzu freundlich mit den Politiken der Computerkonzerne umzugehen, läßt die amerikanische Werbeindustrie allerdings kalt. Auch für sie ist Wired vor allem Kult. Tatsächlich besitzt das Magazin alle Komponenten, die einem gehefteten Stapel bedruckten und mit Bildern versehenen Papiers die nötige Aura von Hipness, Progressivität und Exklusivität verleihen, die es für junge, gebildete und nicht gerade arme Menschen interessant macht. Es ist schnell, grell gelayoutet, vollgepackt mit Warenfetischen, die den Namen auch verdienen und vor allem ein Forum für Debatten, die die meisten Leute nicht verstehen. Und trotzdem immer in Reichweite des Mainstreams, nahe genug jedenfalls, um jeden Monat in den USA um die 300.000 Kopien zu verkaufen.

Wireds simple Idee von der „Digitalen Revolution“ ist massenkompatibel: Der freie Fluß digitaler Information wird Wirtschaft und Gesellschaft in eine blühende Zukunft führen. Auf dem Weg dorthin spielt das Magazin eine Schlüsselrolle für die Multimediakonzerne. Erst wenn eine genügend große Zahl von sogenannten early adapters in ein neues, von Wired mit dem Gütesiegel „Kult“ versehenes Hi-Tech-Produkt investiert, kann es auf den langen Marsch in den Massenmarkt geschickt werden. Von Wired profitieren alle: Junge und solvente Konsumenten informieren sich über identitätsstiftende, sexy Produkte und werden im Gegenzug selbst an die Werbeindustrie verkauft. Am Ende dieses Prozesses kann auch Joe Normalverbraucher mit erschwinglichen Technoprodukten versorgt werden.

Aus politischer Perspektive präsentiert Wired wie keine andere Zeitschrift den hippieesken Feudalismus der Westküste, der ökonomisch auf der Multimediaindustrie Siliwoods und ideologisch auf der Vorstellung von Technologie als Schlüssel zur Zukunft basiert. Während die europäische Linke bis in die achtziger Jahre hinein technologiefeindlich blieb, von Aktivisten wie dem Chaos Computer Club einmal abgesehen, entwickelten die kalifornischen Hippies die Idee, Technologie für ihre Grassroots-Politik zu nutzen. Der Niedergang der kalifornischen Rüstungsindustrie in den Nachbeben von Vietnam hatte Kapital und Ideen freigesetzt, die ebenfalls vom Militär errichteten Computernetze boten eine ideale Infrastruktur für soziale Netzwerke. Und was wäre schließlich heuristischer als der PC?

Hippiekommunen wie die der Deadheads brachten ihre Ideen und Strukturen in das WELL (Whole Earth 'Lectronic Link) ein, eine der ersten auf vernetzten Computern basierenden virtuellen Gemeinschaften. Umgekehrt konnten Ex- oder Immer-noch- Hippies wie Mitch Kapor mit Software reich werden. Kapor ist heute im Millionärsclub „Elektronic Frontier Foundation“ tätig, einer libertären Organisation, die das Recht auf freie Meinungsäußerung vehement gegen die Netzzensurpläne des Kongresses verteidigt und Wired gerne als Lautsprecher benutzt. Mit libertär meint man in Kalifornien nicht etwa Kropotkin oder Proudhon, sondern jene krude Mischung aus Neoliberalismus, Individualismus und Anti- Etatismus, die im Silicon-Valley- Establishment fest verankert ist. Libertär ist da, wo Hippies und Konservative zusammentreffen.

Diese „Californian Ideology“ sei der eigentliche Kern der Botschaft von Wired, hieß es vor kurzem im britischen mute, einer Zeitung, die im Untertitel ganz europäisch eine „digitale Kunstkritik“ mitführt. In der virtuellen Demokratie Jeffersonschen Zuschnitts, die von den Technolibertären demnächst erwartet wird, gehe es vor allem darum, daß jeder ein freier Händler von Bits und Bytes werden könne, nicht um einen universalen Zugang zu den Netzen. Schließlich sei der von den Kaliforniern so gern zurück in die Zukunft geholte Jefferson zwar einer der wichtigsten Protagonisten eines demokratischen Amerika, gleichzeitig aber auch einer der größten Sklavenhalter des Landes gewesen. Wired-Herausgeber Louis Rossetto konterte via E-Mail und bemerkte ganz nebenbei, die Wohlfahrtspolitik der Alten Welt belohne parasitäres Leben eben eher als Risikobewußtsein. Kalifornien ist weiter weg, als man denken könnte, und vielleicht näher, als man sich wünschen sollte. Wired scheint nach Haight Ashbury und Richard Nixon, Apple und Lockheed, Gangsta Rap und Scientology nur das allerneueste Produkt seiner zwiespältigen Kultur zu sein.