Seltsam verkrampfte Gelassenheitsposen

Sieht Jean Baudrillard einfach zuviel fern? Der französische Denker der „Simulation“, Modephilosoph der Achtziger, entpuppt sich in seinem Werk „Das perfekte Verbrechen“ als Apokalyptiker und verzweifelter Heimatsucher  ■ Von Walter von Rossum

Der Pariser Soziologe Jean Baudrillard ist ein Phänomen. Und wenn es mit rechten Dingen zugeht, wird man vielleicht einen Strang der Kulturgeschichte der letzten 30 Jahre nach ihm benennen: Baudrillardismus oder Baudrillartude vielleicht.

Diese Ära hat den betörenden Duft der Endzeit verbreitet. Auch wenn Baudrillard nicht alleine dastand – kaum einer versteht es so wie er, genüßlich auf den fernen Widerschein Armageddons vorauszuweisen. Zum Apokalyptischen gehört der Überblick über das Ganze des Seins und der Zeiten.

Baudrillards Zeit beginnt 1968. Vorher hatte er als Übersetzer unter anderem der Werke von Peter Weiss und Bert Brecht einen ersten Ruf erworben. Dann entdeckte die Studentenrevolte ihn und sein erstes Werk „Das System der Gegenstände“.

Und hier beginnt eines der großen, ziemlich unfruchtbaren, aber wahrscheinlich unvermeidlichen Mißverständnisse: Ein in die Tiefe fühlendes Unbehagen an den kapitalistisch-rationalistisch modernen Lebensformen schlechthin suchte auch die Kulturrevolution. Und wie aufs Stichwort traten Theoretiker wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder eben Jean Baudrillard auf, die versprachen, jene ins Unsichtbare entzogenen, abstrakten Wirklichkeitsklammern aufzuspüren und aufzusprengen.

Allerdings blieben die neuen Systemdenkereien von Anfang an von konkreten politischen Perspektiven unbeschwert. Darin bestand vielleicht ihr Reiz und ihr Erfolg im institutionalisierten Denken in Frankreich. Sie beerbten die politische Kritik. Nichts konnte vor ihren Augen bestehen, aber niemand mußte sich deshalb Sorgen machen.

Diese beamteten Experten fürs Wilde Denken machten von Anfang an klar, daß Therapie, daß auch nur der Gedanke an Therapie Symptom fortgeschrittener Krankheit sei. So auch Baudrillard mit seinem theoretischen Hauptwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“ von 1976 – ein Meisterwerk, was die Unterwerfung des Sozialen unter das Metaphysische angeht. Baudrillard beschreibt hier die Techniken, mit denen das Soziale den Tod verdrängt, so als ob die Todesverdrängung das eigentliche Formprinzip und Triebmotiv des Gesellschaftlichen wäre. Am Schluß räumt er ein, daß auch das eigene systematische Theoriegebäude nur eine Form der Todesverdrängung sei.

Daraus ergab sich eine neue Denk-, Schreib- und Lebensaufgabe: Chercher la mort, den Tod suchen: das wilde Andere – das System unterlaufen, das vom Sozialen Erfaßte und Entehrte fliehen, um so vielleicht das Leben berühren zu können, rein und unbekannt. Baudrillard und andere nannten und nennen diese Perspektive subversiv. Was das heißen soll, erläutert Baudrillard in verschiedenen Büchern wie: „Von der Verführung“, „Die fatalen Strategien“ und zuletzt in den „Cool Memories“ – einer Art Sudelbuch, das Erfahrungssplitter und Gedankenreste aus den Jahren 1980–85 sammelt und sich sorgsam hütet, Kohärenzen irgendwelcher Art herzustellen. Schließlich hält der Verfasser die Fragmentierung des Denkens für die derzeit gefährlichste Waffe.

Nun sind die „Cool Memories“ absolut nicht abgeklärt, sondern ein Handbuch verkrampfter Gelassenheitsposen. Ein Teil der Texte ist in Kalifornien entstanden, wo Baudrillard sich in den 80er Jahren häufig aufhielt. Unvorstellbar reiche Mäzene hatten ein paar Milliarden (!) Dollar zur kulturellen Veredlung der Stadt Los Angeles spendiert. Und so konnte man für horrende Summen ebenso Renaissance-Schinken aus europäischen Museumsdepots einkaufen wie in die Jahre gekommene Pariser Postmoderne. Deren Verteter auch gleich geschlossen dem kalifornischen Ruf folgten und Denken als eine Art Designerübung unterrichteten. Entsprechend schwanken die „Cool Memories“ zwischen Hysterie und Depression. Baudrillard dreht hübsche Endzeitpirouetten wie diese: „Es geht darum, das Leben, den Sex, die Energien und das Gedächtnis auszukosten, bevor es zu spät ist.“ Es ist zu spät. Baudrillard hat ein Spätwerk vorgelegt, das unwiederbringlich den Schlußpunkt anzeigt: Wiederholung und manirierte Variation. Ein gelegentlich verzweifeltes Rütteln an den Gitterstäben des eigenen Werks.

Dieses Buch heißt „Das perfekte Verbrechen“. Das perfekte Verbrechen hat aber noch nicht stattgefunden. Allein Sherlock Baudrillard ist dem Prozeß, der da und dort, eigentlich überall, insgeheim und doch bei voller Beleuchtung abläuft, auf die Schliche gekommen. Es geht um die Abschaffung der Realität. Nicht mehr, nicht weniger. Es muß irgendwann, irgendwo eine Zeit und eine Art gegeben haben, wo die Menschen in Frieden und Freude mit der unnahbaren Realität und der Illusion von Realität gelebt haben. Genaueres dazu verrät uns der Soziologe nicht.

Gutes altes Überblicksdenken

Wir sind in das Zeitalter der Simulation eingetreten. Simulation heißt: Das Bild des Realen schiebt sich vor das Reale, um es zu ersetzen. Dieses Zeitalter will vergessen machen, daß das Bild nur Abbild ist, das Wort nur Schattenspiel der Zeichen vor der unfaßbaren Realität. Heute tendiere das Bild dazu, die Rolle des Abgebildeten zu übernehmen. Der Bericht vom Ereignis ersetzt das Ereignis. Wir leben im Zeitalter des Hyperrealen, des Virtuellen, der totalen Mediatisierung, der künstlichen Intelligenz. Wer hätte das gedacht? Auch Baudrillard winkt also nur mit den Keulen, an denen das ganze feuilletonistische Rudel seit Jahren nagt. Deshalb setzt sich Baudrillard auf jeder Seite von diesem kritischen und moralisierenden Zeitgeistgeschnatter ab. Er hängt seine Version der Lage ein paar Etagen höher. Sagen wir, er denkt etwa auf der Höhe der Heideggerschen „Seinsvergessenheit“ oder des „Gestells“.

Und so finden wir auf jeder Seite drei bis fünf Diagnosen über den Zustand der Welt, der Dinge, des Menschen, des Denkens, kurz, des schwindenden Realen aus der beruhigenden Perspektive des guten alten Überblicksdenkens, das die letzten und ewigen Dinge im Vorübergehen pflückt. Tatsächlich habe ich schlechter gelaunte und humorlosere Stilübungen des überdrüssigen dunklen Engels lange nicht gelesen.

Natürlich würden wir beim Irrlauf durch 230 Seiten sentenziösen Sperrfeuers gerne mal dem Walten der Simulation näherkommen. Aber mit solchen didaktischen Kleinigkeiten plackt sich Baudrillard in seinem Alterswerk nicht mehr ab. So wie wir angeblich mal in einer Zeit gelungen balancierter Illusion gelebt haben sollen, stecken wir jetzt längst in einer „brave new world“, das heißt in der hohen Zeit der Simulation. Und so schreibt er: „Indem wir das Andere in all seinen Erscheinungsformen (Krankheit, Tod, Negativität, Gewalt, Fremdheit) beseitigen, ganz zu schweigen von den Unterschieden in Rasse und Sprache, indem wir alle Einzigartigkeit beseitigen, um eine völlige Positivität erstrahlen zu lassen, sind wir im Begriff, uns selbst zu beseitigen.“ Baudrillard glaubt also, die technokratische Utopie der Moderne sei längst eingelöst.

Da wir allerdings keineswegs glauben, daß Krankheit, Tod, Negativität, Gewalt und Fremdheit beseitigt seien, fragen wir uns, wo der Mann eigentlich lebt. Nachdem wir 50 Seiten durch sein zappendes Denken gezuckt sind, ahnen wir eine Antwort: Baudrillard hat lange nicht mehr das Haus verlassen, sein genießerischer Mißmut über den Stand der Dinge nährt sich von pausenloser Fernseherei und von der traurigen Illusion, TV und vor allem seine Werbebotschaften hätten längst die Herrschaft über die Welt ergriffen.

Wohlgemerkt, das hat nichts mit Medienkritik oder auch nur Medientheorie zu tun. Auf jeder Seite ermahnt uns Baudrillard, daß der Sache mit Kritik oder schon gar mit politischer Vernunft nicht beizukommen sei. Er pflegt eine apokalyptische Vision, die ihm erlaubt, ein dunkles Ressentiment gegen die Welt zu hegen, ein Ressentiment, das ihn zu gar nichts verpflichtet. Es hüllt ihn in feine Verachtung und bittersüße Lähmung. Und im Fernsehsessel fallen dann kühne Träume über ihn her. In denen zieht er als verwegener und schön verloren gestylter Ritter der „Alterität“ durch die digitalisierte Landschaft. „Alterität“ ist das Paßwort, um in die Welt des einzig richtig Realen zu gelangen. Ein Reich, wo die Dinge und Menschen noch wild sind, wo Mann und Frau ihre Differenz noch nicht in banale Definitionen gegossen haben und zu Tode verwalten, wo das wütende Verlangen noch tobt, wo Herr und Sklave noch in unerbittliche, blutige und unversöhnliche Kämpfe verstrickt sind und wo überall ein Tod lauert, Gefährte und Garant der wüsten Wirrnis. Kurz, Baudrillard träumt vom Reich der ursprünglichen Deutlichkeiten des Kampfes.

Diesen Traum allerdings kennen wir. Und wir sehen jetzt, was manche schon länger ahnten: Baudrillards Postmoderne offenbart sich endlich als die letzte, gut getarnte Krypta verzweifelter Heimatsucherei. Das Wilde Denken ist nur ein frommes Gebet.

Jean Baudrillard: „Das perfekte Verbrechen“. Aus dem Französischen von Riek Walther. Matthes & Seitz Verlag, München 1996, 230 Seiten, 49,80 DM