Schriften zu Zeitschriften
: Black Socrates?

■ Die „Village Voice“ will die Nostalgie der Rassentrennung entdeckt haben

Ein ziemlicher Schreck muß den Redakteuren der New Yorker Stadtzeitung The Village Voice in die Glieder gefahren sein, als sie sich plötzlich von der liberalen Tante New Yorker in puncto Minderheitenkultur links überholt sahen. Gleich zwei Sonderhefte hatte der New Yorker vorgelegt, eins zu „Frauen“ und eins zu „Black in America“. Während das Frauenheft wohl ziemlich leicht aus dem Feld zu schlagen war, hatte das von Harvard-Professor Henry Louis Gates redigierte Heft in eleganter Klarheit die entscheidende Frage formuliert: Muß man den Universalismus der Bürgerrechtsbewegung aufgeben und auf schwarze Differenz setzen, oder leiden die Innenstädte der Metropolen gerade an einem Zuviel an Differenz, weil zugleich mit der Koppelung an die weiße Umgebung auch jede legale Ökonomie verlorengegangen ist?

„Afrocentrism and its discontents“ (Das Unbehagen im Afrozentrismus) heißt das Porträt der Altphilologin Mary Lefkowitz, mit dem das Thema „Schwarz in Amerika“ in der Village Voice aufgenommen wird. Hinter Lefkowitz' breitem Rücken versteckt sich die Voice, um sich mit einigen inzwischen auch an Universitäten als Geschichte gelehrten Mythen des Afrozentrismus auseinanderzusetzen. Dazu gehört bekanntermaßen die Behauptung, die griechische Antike und damit der gesamte westliche Kanon basiere auf der Ausbeutung und sukzessiven Verleugnung der älteren schwarzen Kultur Ägyptens. Sokrates sei schwarz gewesen, Aristoteles habe die Bibliothek Alexandrias geplündert, das dort gefundene Wissen später als sein eigenes ausgegeben. Lefkowitz warf nun die Frage auf, wie Aristoteles das habe tun können, wenn die Bibliothek zu seinen Lebzeiten noch gar nicht existiert habe. Da es sich aber um eine Verschwörungstheorie handelt, ist sie gegen Lefkowitz' Argumente resistent. Professor Yosef A. A. Ben-Jochannan, ein bedeutender Vertreter des Afrozentrismus, dem sie bei einer Veranstaltung zum Thema diese Frage stellte, verbat sich den Ton und fuhr fort.

Die Voice wiederum möchte nun schwarze Partikularität retten, ohne den afrozentrischen Irrsinn gleich mitkaufen zu müssen. Dabei ist ihr Autor Adolph Reed auf eine ebenfalls extravagante These verfallen. Er bemerkt „in jeder Zeitung, in jedem Magazin, an der Kasse im Supermarkt, im Klassenzimmer, am Abendbrottisch und in der Kulturkritik“ eine schwarze Nostalgie für die Zeit der Rassentrennung. „Hat nicht das mörderische Regime der Nazis“ – so paraphrasiert er das Leitmotiv dieser „Erinnerungsindustrie“ –, wie schlecht auch immer es war, die Juden in den Lagern vereint und zu einer solidarischen Gemeinschaft gemacht, wie es sie seither nie wieder gegeben hat?“ Als Beleg dient Reed zufällig gerade die Autobiographie ebenjenes Henry Louis Gates mit dem Titel „Colored People“, in dem dieser seine Kindheit und Jugend im segregierten West-Virginia beschreibt, aber auch Bücher wie „Plural but Equal“ von Harold Cruse, das die Veränderungen des schwarzen Gemeinschaftsgefühls nach der Bürgerrechtsbewegung beschreibt. Aus diesen Texten spreche die Sehnsucht nach der Einfachheit, Intaktheit und klaren Rollenverteilung schwarzen Lebens im amerikanischen Süden der zwanziger und dreißiger Jahre. Reed ist den Autoren aber schnell auf die Schliche gekommen und weiß, daß ihre Träume bourgeoise Träume sind: „Während ihre weißen Zeitgenossen sich in eine mythische, viktorianische Zeit, ein Merchant-Ivory-Setting hineinträumen, suchen schwarze Baby-Boomer ihre verlorene Jugend und Unschuld im baumwollpflückenden Mississippi. Die Botschaft ist klar: Unser Blut ist auserwählt. Wir sind die echte Aristokratie unserer Rasse.“ Sie, für die Rassismus höchstens mal bedeutet habe „Ich bekam kein Taxi“, beanspruchten hier wieder die Meinungsführerschaft in der schwarzen Community.

Man spürt die strenge Zucht des Dekonstruktivismus. Keine Visionen mehr für alle entwickeln! Aber auch keine Eigeninteressen durchdrücken! Aber um Himmels willen auch nicht tatenlos zusehen, wie die schwarzen Brüder in den Innenstädten weiter marginalisiert werden!! Ob die Village Voice mit diesem komplizierten Appell, diesem Double-bind, neue Leserschichten mobilisieren kann? Mariam Niroumand

Village Voice, Vol. XLI No. 16