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Für schwarzen Gemeinsinn

■ Henry Louis Gates und Cornel West, zwei schwarze Vordenker, kritisieren die Illoyalität der Black Community: Aufsteiger kümmern sich nicht um Verlierer

Die Menschen, die an diesem Abend über den Campus der Howard University in Washington laufen, fallen besonders durch ihre Haare auf. Die einen tragen dicke, in die Luft ragende „Nubian Locks“, andere komplizierte „Twists“. Manche wagen einen „Creative Coil“, einige haben Stunden damit verbracht, die Haare in „Bantu-Knoten“ zu legen. Fast schon banal wirken da die gewöhnlichen Frisuren anderer Schwarzer: „Braids“ – lange Rastazöpfe; „Baldies“ – der kurzrasierte Schädel als sachlicher schwarzer Geschäftslook; oder ein „Afro“ – das natürlich gekräuselte Haar.

In Howard findet heute eine „Natural Hair Show“ statt. Sie soll „afrozentrische Traditionen“ zeigen, Haare prächtig zu gestalten – ohne Gel, Spray oder sonstige Schmiere.

Aber in Howard geht es nicht nur um Haare. Die Universität, in einem unattraktiven Viertel Washingtons, abseits vom Weißen Haus gelegen, gilt als eine der besten schwarzen Hochschulen der Vereinigten Staaten. Hier werden junge Afroamerikaner auf ihr Berufsleben, auf Positionen in Banken, Kanzleien und Regierungsämtern, auf Stellen in Lehre und Forschung vorbereitet.

Doch während die wohlhabende schwarze Mittelschicht sich seit dem Tod Martin Luther Kings vervierfacht hat, ist die Zahl farbiger Armer und Obdachloser überproportional in die Höhe gejagt. Drei Jahrzehnte nach der hohen Zeit von Bürgerrechtsbewegung und „Affirmative action“ stehen Amerikas Schwarze vor einer wie nie zuvor gespannten Situation: Einige haben's geschafft, allzu viele nicht. 1995 gehörten 45 Prozent aller schwarzen Kinder schon am Tag der Geburt zu den Ärmsten dieses Landes; ihre Familien leben an und oft sogar unterhalb der Armutsgrenze.

Während der Umsatz der hundert erfolgreichsten schwarzen Unternehmen seit 1973 von 473 Millionen auf 11,7 Milliarden Dollar gestiegen ist, sind die Lebensumstände in den Ghettos immer dramatischer geworden: 1993 etwa gingen in Amerika 2,3 Millionen Schwarze in den Knast; nur 23.000 erhielten im selben Jahr einen Hochschulabschluß – ein Verhältnis von hundert zu eins. Das durchschnittliche Guthaben der ärmsten fünf Prozent liegt bei Null. Die Zahlen dokumentieren vor allem eines: Die reichen Afroamerikaner werden reicher, die armen ärmer. Wer es einmal in einen Bürosessel geschafft hat, bleibt in seinem Office und läßt die Rollos herunter. Von Verantwortung und Loyalität keine Spur.

Das beklagen die beiden schwarzen Vordenker Henry Louis Gates Jr. und Cornel West, beide leitende Professoren in Harvard, an einer der renommiertesten Fakultäten für afroamerikanische Kultur. In der All Souls Church in Washington stellten sie ihr kürzlich erschienenes Buch vor: „The Future of the Race“ (Alfred A. Knopf, New York, 21 Dollar).

„Wir dürfen uns nicht ausruhen auf dem, was unsere Bürgerrechtler jahrzehntelang erkämpft haben. Wir müssen unsere Leute von der Straße holen.“ Der Appell richtet sich dabei an Schwarze ihrer eigenen Generation, die sie die „Cross-over-Generation“ nennen. Jene Schwarze, die erstmals in Amerikas Geschichte so zahlreich das Privileg hatten, an den begehrtesten Universitäten wie Harvard und Yale zu studieren.

Vor 25 Jahren öffneten die Ivy- League-Schulen, die heiligen Tempel der weißen Bildungselite, ihre Pforten für Farbige. Aber auch schwarze Hochschulen wie Fisk oder Howard wurden zu weithin gelobten Institutionen. Bildung schien die Lösung. Die Lage heute ist ernüchternd: Nie waren die Gräben innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft so groß.

Gates und West suchen in ihrem Buch einen intellektuellen Rahmen für das aktuelle Dilemma. Ihre Thesen gehen zurück auf einen der einflußreichsten schwarzen Autoren überhaupt: W. E. B. Du Bois. In seinem 1903 erschienenen Essay „The Talented Tenth“ schrieb der Philanthrop Du Bois einer kleinen schwarzen Elite die Verantwortung zu, den Weg aus der Misere zu finden. „Bildung ist das einzige System, das Menschen formt und entwickelt. Die schwarze Rasse, wie alle anderen auch, wird von ihren außergewöhnlichen Männern gerettet“, schrieb Du Bois.

Das war nichts als Wunschdenken, resümieren West und Gates. Die schwarze Bildungselite hat versagt. Sie bildet sich selbst aus, aber nicht die anderen, die auf der Straße. Cornel West attestiert Du Bois die gleiche Unfähigkeit, die heute schwarze Rechtsanwälte, Richter und Ärzte an den Tag legten: intellektuelle Abgehobenheit, kein „tiefes Gefühl in den Knochen“ für das gewöhnliche, leidende schwarze Volk. Aber was, wenn man auf Bildung allein nicht bauen kann? Eine Gedenkminute, die man in der Kirche für den im April über Bosnien abgestürzten Commerce Secretary Ray Brown einlegt, weist den Weg, den West und Gates im Sinn haben. Brown war einer der wenigen Farbigen in hohem Regierungsamt, der nicht nur über Gleichberechtigung redete, er setzte sich stets ein, Gelder lockerzumachen, Institutionen gezielt zu subventionieren, die alleine wenig Überlebenschancen haben.

Brown war eine Galionsfigur für Weiße und Schwarze in den USA. Doch Männer wie er sind rar. Immer weniger schwarze Politiker sind in den exekutiven und legislativen Regierungsämtern zu finden. Mit einer republikanischen Mehrheit im Kongreß laufen viele Schwarze – fast ausschließlich Demokraten – Gefahr, ihre Ämter zu verlieren. Einigen „Congressional Black Caucuses“ (CBC), schwarzen Parteiausschüssen im Kongreß, wurden Mitspracherechte bei der Gesetzgebung entzogen. Soziale Mißstände zu beseitigen wird in Zukunft noch schwieriger. Ein drängendes Beispiel sind die „Elementary Schools“, die öffentlichen Schulen in Washington. Die Zusammensetzung ihrer Schülerschaft ist durch Gleichberechtigungsklauseln vorgeschrieben: weiß und schwarz je die Hälfte. In vielen Vierteln sind die schwarzen Schüler längst in der Mehrzahl, und es werden zuwenig Weiße angemeldet.

Die Weißen können private – bessere – Schulen bezahlen. Absurde Folge: Ein Gesetz, das mit Quotierungen schwarze Segregation verhindern sollte, führt also dazu, daß gerade in den gefährdeten Vierteln die Bänke leerbleiben und Klassen nicht zustande kommen. Wer hat, darf lernen, wer nicht hat, spielt halt weiter Streetball.

Die Hoffnung für Amerikas schwarze Minderheit, mit der bevorstehenden Jahrtausendwende besseren Zeiten entgegenzublicken, steht auf wackeligen Beinen. Durch die neuen Einwanderungswellen sinkt zudem ihr Bevölkerungsanteil prozentual. Immer mehr Latinos und Asiaten kommen auf der Suche nach Arbeit ins Land. Für sie sind die schwarzen Amerikaner wie alle anderen – und Konkurrenten. Auf einem übervollen Arbeitsmarkt ist für „Mindestlohnforderungen“ kein Platz.

Indes dichten und schreiben schwarze Intellektuelle auf Hochtouren. Dieses Jahr wird mehr afroamerikanische Literatur veröffentlicht als jemals zuvor, mehr sogar als während der Harlem Renaissance, der florierenden Epoche schwarzer Dichter Anfang des Jahrhunderts. Überall sprießen junge Verlage aus dem Boden, um schwarze Lyrik und Prosa zu veröffentlichen. Die Chocolate Chronicles Company oder Smyrna Press sind nur zwei Beispiele. Der New Yorker widmete sich in der Ausgabe April/Mai gänzlich dem Thema „Black in America“ (siehe taz vom 29. 5. 96 und nebenstehenden Artikel).

Amerikas schwarze Minderheit sitzt nicht mehr in einem Boot. Während die einen sicheres Land ansteuern, saufen die anderen ab. Henry Louis Gates und Cornel West plädieren für eine neue Loyalität und ein schwarzes Traditionsbewußtsein. „Ohne Louis Armstrong kein Parker, ohne Parker kein Monk, ohne Monk kein Coltrane ...“, sagte Cornel West beschwörend.

Hoffentlich hat er einen längeren Atem als W. E. B. Du Bois. Desillusioniert von Amerika, trat Du Bois am Ende seiner Karriere der Kommunistischen Partei bei und wanderte nach Ghana aus. Marc Bielefeld

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