Nazi-Urteile wirken fort

■ Nach der Aufhebung von NS-Urteilen gegen zwei katholische Geistliche werden jetzt weitere Verfahren von der Justiz überprüft. Die Rechtslage ist verwirrend

Die Männer des 20. Juli 1944 mußten in schäbigster Kleidung vor den Volksgerichtshof treten. Noch ehe das Urteil gesprochen war, beschimpfte sie Gerichtspräsident Roland Freisler hysterisch als „Lumpen“, „Verräter“ und „feige Mörder“. Eine Verteidigung fand nicht statt, den Angeklagten wurde das Wort abgeschnitten.

Die ersten zum Tode Verurteilten waren am 8. August 1944 Erwin von Witzleben, Erich Hoeppner, Hellmuth Stieff, Paul von Hase, Robert Bernardis, Peter Graf Yorck von Wartenberg, Albrecht von Hagen und Friedrich Karl Klausing. 80 Gesinnungsgenossen wurden nach ihnen im Gefängnis Berlin-Plötzensee umgebracht.

52 Jahre danach sind die Urteile gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli und andere Oppositionelle gegen Hitler möglicherweise immer noch rechtsgültig. Die „meisten“ Entscheidungen, wenn sie in Berlin verkündet und dann vollstreckt wurden, „dürften noch in Kraft sein“, sagt Justizsprecher Rüdiger Reiff. Dies gelte auch für weitere NS-Unrechtsurteile, etwa gegen Beschützer von jüdischen Mitbürgern. „Genaueres kann derzeit aber nicht gesagt werden“. Das Berliner Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts von 1951 hatte Urteile, die in der NS-Zeit aus politischen Gründen ergangen waren, nicht pauschal aufgehoben. Dies konnte in Berlin – anders als etwa in Bayern, wo 1949 die Urteile per Gesetz für ungültig erklärt wurden – nur auf Antrag des Betroffenen beziehungsweise der Nachkommen oder der Staatsanwaltschaft geschehen.

Heute weiß in Berlin niemand, welche Entscheidungen bereits in den 50er oder 60er Jahren für ungültig erklärt worden sind. Ein entsprechendes Register besteht in Berlin nicht. Auch ein Beschluß des Bundestages von 1985, der den Urteilen des Volksgerichtshofes „keine Rechtswirkung“ zusprach, ändert an der Verwirrung nichts. Der Beschluß hat wohl nur deklaratorische Funktion.

Nach Angaben von Reiff ist in den vergangenen Tagen eine Überprüfung eingeleitet worden, die jedoch „einige Zeit in Anspruch nehmen“ wird. Zum Teil ist auch unklar, gegen wen überhaupt Urteile ergangen sind. So wird ermittelt, ob Hitler-Attentäter Claus Graf Schenk zu Stauffenberg vor seiner Erschießung verurteilt wurde. Nach derzeitigem Stand ist dies aber sehr unwahrscheinlich.

Ausgangspunkt der neuen Diskussion um die Gültigkeit der NS- Urteile ist der Antrag auf Aufhebung des Urteils gegen den Theologen Dietrich Bonhoeffer von Studenten der Evangelischen Fachhochschule Hannover. Bonhoeffer war unter anderem gemeinsam mit Abwehrchef Wilhelm Canaris und Generaloberst Hans Oster im KZ Flossenbürg am 9. April 1945 nach einem Sondergerichtsverfahren hingerichtet worden. Für alle in diesem Prozeß Verurteilten hat die Staatsanwaltschaft inzwischen die Aufhebung der Urteile beantragt. Vor 14 Tagen hatte bereits das Berliner Landgericht die Urteile gegen den Domprobst Bernhard Lichtenberg und den Priester Karl Leisner aufgehoben – kurz vor ihrer Seligsprechung durch den Pabst.

Warum in Berlin erst jetzt das Thema systematisch aufgegriffen wird, kann in der Justiz keiner schlüssig beantworten. Vor 15 Jahren soll es bereits einmal eine Diskussion gegeben haben, die aber im Sande verlief. Ulrich Scharlack, dpa