Die Ästhetik des Widerstands Von Wiglaf Droste

„Warum hast du lange Haare?“ – „Aus Protest!“

Es hat keinen Zweck: Man kann den Karikaturisten der SZ, der FR, des ND usw. nicht verbieten, mit „Europa“ beschriftete Kühe zu zeichnen, die auf Weiden stehen, die „Steuerzahler“ heißen oder, andersherum, Kühe, die „Steuerzahler“ genannt werden, während dann ein Melker als „EG-Haushalt“ firmieren muß.

Es ist ihnen nicht abzugewöhnen, kein Argument hilft, seit 100 Jahren heißt der Kram auch noch stereotyp „Aufgespießt“ und ist angeblich „mit spitzer Feder“ hergestellt worden, obwohl die Benutzung einer Gemeinschaftsschablone um einiges wahrscheinlicher ist, die sie dafür verwenden, einen zipfelbemützten deutschen Michel zu zeichnen oder einen Kapitalisten mit Bowler-Hut. Ebensowenig kann man Demonstranten erfolgreich untersagen, Pappsärge mit den Aufschriften „Demokratie“, „Frieden“ oder „Sozialstaat“ mit sich herumzutragen; zum einen sind die jeweiligen Artefakte meistens schon recht alt und werden, weil man sich so schön an sie gewöhnt hat, immer wieder gern aus dem Spind geholt; andererseits ist eben in viele Protestschädel nicht einmal die simple Wahrheit hineinzubringen, daß die Zumutungen, die die gesellschaftliche Wirklichkeit bereithält, nicht mit ebenso scheußlichen ästhetischen Mitteln bekämpft werden kann.

Der Einsatz von Lautsprecherwagen, die in den 90er Jahren noch immer „Ton Steine Scherben“- dröhnend einer Demonstration voranfahren, ist etwa so nützlich und klug wie das „Hopp, hopp, hopp, irgend etwas stopp!“-Geblöke von Demonstranten, die sich, weil sie es vorziehen, sich in der Masse zu blamieren, dann doch lieber gleich zur Love Parade gehen sollen, treu und dösig der Anweisung F.W. Bernsteins folgend: „Der Depp geht öfters in die Stadt / weil's dort so viele Deppen hat / der Depp / Der Depp geht nie allein ins Bett / wo's dann zuwenig Deppen hätt / der Depp.“

Als ich Ende März in Wien gemeinsam mit Harry Rowohlt in eine studentische Demo geriet, wo die Unoriginalität der Parole „Jeder Mann und jede Frau / gegen den Sozialabbau“ durch stimmliches Überschnappen kompensiert werden mußte, baßte Harry Rowohlt dagegen: „Jeder Mann und jede Frau / essen heute Kabeljau!“ Prompt näherte sich eine Doppelstreife der Motorradpolizei, die sofort begriffen hatte, wer ihr einziger echter Gegner war: ein Bär von ziemlich großem Verstand.

Einen Lichtblick aber will ich nicht unterschlagen: Als Mitte Juni die Berliner Germanistikstudenten dagegen protestierten, daß die Mittel für ihre Bibliothek um die Hälfte gestrichen werden, da hatten sie natürlich – Grausen, o Grausen! – einen Pappsarg mit der Aufschrift „Germanistik“ dabei, lasen aber ansonsten ihre Lieblingstexte vor zum eindrucksvollen Beweise, daß die existentielle Notwendigkeit der Literatur sich immer aus der Literatur selbst ableitet.

Und was lasen sie? – Unter anderem zwar auch ein Gedicht des offensichtlich noch immer unvermeidlichen Erich Fried, aber gleich drei von Heinz Erhardt. Und ein Protest, der sich von der Schreib's- untereinander-und-nenn-es-Gedicht-Literatur ab- und statt dessen dem humoristischen Reim zuwendet, hat dann doch einiges auf seiner Seite.