Der Weg bis zur Versöhnung ist noch weit

■ Verhaltene polnische Reaktionen auf Wiesels Rede bei Gedenkfeiern in Kielce

Kielce (taz) – „Ich hab den Eindruck, wir Polen haben die Hand ausgestreckt und die Juden haben sie nicht ergriffen“, sagt eine polnische Reporterin. Und einer der Kielcer Historiker meint: „Das Beste an den Feierlichkeiten ist, daß sie stattgefunden haben und jetzt vorbei sind. Bis zu einer wirklichen Versöhnung zwischen Polen und Juden wird es wohl noch lange dauern.“

Dabei hatte alles so gut angefangen. Mehrere 100 Kielcer säumen das Gelände um die Plantystraße, wo vor 50 Jahren das größte Judenpogrom Nachkriegspolens 42 Opfer gefordert hatte. Die Stadt ist aus Furcht vor Anschlägen von der Polizei besetzt. Reisegruppen junger Juden aus den USA und Israel haben sich eingefunden, Überlebende des Pogroms und des Holocaust. Der Bürgermeister von Kielce, Boguslaw Ciesielski, tritt ans Pult. Vor einer Woche hatte er noch betont, die Stadt müsse sich nicht entschuldigen. Jetzt tut er's doch: „Ich kann nur um Vergebung bitten, daß hier in Kielce vor 50 Jahren diese tragischen Ereignisse stattgefunden haben.“

Auch der polnische Premierminister Wlodzimierz Cimoszewicz bittet in seiner Ansprache um Entschuldigung. Eine Gruppe junger Juden aus den USA hört regungslos zu. Sie verstehen nichts. Erst als alles vorbei ist, werden die Texte auf englisch verteilt. So ist es kein Wunder, daß die einzige Rede in Englisch den tiefsten Eindruck hinterläßt. Elie Wiesel, der Holocaust-Überlebende und Nobelpreisträger, hält sie. Mit Nachdruck fordert er Cimoszewicz dazu auf, die Kreuze vom Gelände des Vernichtungslagers Birkenau zu entfernen: „Wer immer die da aufgestellt, hatte vielleicht gute Absichten, aber das Ergebnis ist gotteslästerlich.“ Ein Raunen geht durch die polnischen Zuschauerreihen – Wiesels Rede wird übersetzt. „Kann der sich nicht vorstellen, daß es für uns gotteslästerlich ist, sie zu entfernen?“ brummt eine ältere Frau. Wiesel, in Polen kaum bekannt, zieht noch weitere Parallelen: „Lange haben wir uns gefragt, ob es möglich ist, daß Juden noch nach Auschwitz in Auschwitz sterben. Kielce hat gezeigt, daß der Antisemitismus nicht in Auschwitz gestorben ist.“

Das trifft den innersten Nerv: Nichts berührt die Menschen in Polen so sehr, wie mit den Tätern des Holocaust auf eine Stufe gestellt zu werden. Als Wiesel endet, klatschen daher nur wenige Polen. Umgekehrt ist es nach der Rede von Episkopatsprecher Bischof Tadeusz Pierone, der die Judenfeindlichkeit vor dem Krieg „herunterspielt“, wie die amerikanischen Jugendlichen später sagen.

Daß zwei Vertreter jüdischer Kielcer Landsmannschaften danach versöhnliche Ansprachen halten, geht dabei fast unter. Der Vorsitzende der Kielcer Juden in Israel fordert sogar eine junge Kielcerin auf, mit ihm eine Kerze zum Gedenken an die Opfer zu entzünden. Das Bild geht am nächsten Tag durch die polnische Presse. Die anderen versöhnlichen Akzente sind nicht mehr öffentlich: Viele der ausgewanderten Kielcer Juden sind nicht zum ersten Mal nach Kielce zurückgekehrt. Sie haben inzwischen Bekannte und Freunde in der Stadt, bei denen sie den Abend verbringen oder übernachten werden. Jacek Pawlicki