In Fernost der Karl Marx des Fußballs

■ Die vietnamesische Nationalmannschaft weilt derzeit in Bremen/ Ihr Trainer ist der Deutsche Karl-Heinz Weigand

Gerne läßt man die Gedanken in die Ferne schweifen, will man dem grauen Alltag des eigenen Kulturkreises entfliehen. Was ißt man in Brasilien zum Nachtisch, was wird wohl die beliebteste Sportart Vietnams sein? Im letzteren Falle ist die Antwort ernüchternd unexotisch: Fußball. Und von wem wird die vietnamesische Nationalmannschaft trainiert? Von einem Deutschen. Sein Name ist Karl-Heinz Weigand – er ist mit seinen Kickern derzeit auf Tournee durch Deutschland und die Schweiz, mit längerem Aufenthalt in Bremen.

Ermöglicht hat diesen Aufenthalt Willi Lemke, der die Mannschaft am Montag im Weserstadion-Restaurant „Blick“ begrüßte. Für den vietnamesischen Übersetzer tat er dies in Englisch, wobei allerdings Weigand des öfteren das Lemke-Englisch in übersetzbares Englisch dolmetschen mußte. Nach eigenen Worten verbindet den Werder-Manager viel mit Vietnam: „Vor zwanzig Jahren habe ich für euch demonstriert, dann habe ich lange nichts von Vietnam gehört, und jetzt seid ihr hier!“

Mit ernsten Mienen und gewandet in einheitlich blau-grauen Anzügen folgten die Angesprochenen bei Orangen- und Apfelsaft seinen Ausführungen über die Vorzüge des Weserstadions („eines der schönsten Stadien Deutschlands!“), den eigenen Verein („einer der erfolgreichsten Deutschlands!“) und die Unterschiede zwischen deutschen und vietnamesischen Fußballgepflogenheiten. Profifußball beispielsweise existiert in Vietnam offiziell nicht. Statt des hiesigen Gagenpokers bekommt jedes Mitglied der vietnamesischen Nationalmannschaft eine Aufwandsentschädigung über 100 Dollar pro Monat. Davon können die Spieler in ihrer Heimat eine vierköpfige Familie ernähren; das Durchschnittseinkommen in Vietnam beträgt lediglich 30 bis 40 Dollar. Unbekannt wie unmöglich ist auch der fliegende Vereinswechsel von Spielern, wie er hierzulande üblich ist. In Vietnam ist dieser nur bei Wohnortswechseln und ähnlichen äußeren Einflüssen gestattet.

Nun weilen die Fußballer aus Fernost aber keineswegs in Deutschland, um über Geschäftspraktiken zu staunen, sondern um zu trainieren. Laut Weigand, einem 60jährigen gelernten Maschinenbau-Ingenieur mit sonorer Stimme und rauhbeinigem Weltenbummler-Charme, sind seine Jungs „technisch gut, jedoch verbesserungswürdig“.

„Wendig und schnell“ seien sie, hätten aber „wegen ihrer Körpergröße und des nicht gerade robusten Körperbaus“ nicht nur gegenüber Europäern, sondern auch gegen einige asiatische Nationen viele Nachteile. Dies wolle man ausgleichen durch eine Schärfung des taktischen Spielverständnisses, das der Mannschaft noch fehle.

Scheinbar hat das Training bereits gefruchtet. Als die Vietnamesen vor einem Jahr schon einmal in Deutschland gastierten, unterlagen sie gegen den SC Freiburg trotz spielerischer Schönheit mit 1:6. Bei ihrer diesjährigen Reise konnten sie bereits zweimal triumphieren: Die Lokalmatadoren aus Kropp vernichteten sie mit 4:1, gegen Drangstedt konnte man sogar ein 6:1 klarmachen. „Aber darauf kommt es ja gar nicht an,“ wie Karl-Heinz Weigand versichert. Lediglich auf den Trainingsaspekt kommt es an, denn im August stehen die Vorausscheidungen für die asiatischen Meisterschaften an, bei denen Vietnam seit den 60ern mit oftmals großen Erfolgen teilgenommen hat. Trainer war bereits damals Weigand. Wegen des Krieges verließ er 1968 vorübergehend das Land und trainierte einige Jahre lang Fußballer in Ghana, Mali, Malaysia, Kamerun und Gabun. Für Vietnam holte er etliche Pokale, was ihm dort (nach eigenen Angaben) den Ruf des bekanntesten Deutschen neben Karl Marx einbrachte.

In Bremen hält sich die Mannschaft zwar noch bis zum 15. Juli auf, spielen wird sie hier allerdings nicht, sie kickte gestern in Delmenhorst. Besichtigt wurde das Weser-Stadion am Montag trotzdem. Nachdem die Presse dort ihre Fotos von den Kickern geschossen hatte, zückten auch sie die Kameras, und ein hemmungsloses Knipsen jedes Winkels des Stadions mitsamt posierenden Bauarbeitern begann. Aber als Weigand seine Truppe dann wieder zusammenpfiff, um probeweise ein paar Pässe über den Rasen zu kicken, waren sie wieder mit voller Konzentration am Ball. Neben den Trainingserfahrungen werden die Spieler noch echte Bremer Präsente mit in die Heimat nehmen: Werder-Trikots und Schokolade von Jacobs-Suchard.

Andreas Neuenkirchen