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■ Hessen: Peinliche Untersuchungen zu Ozan Ceyhuns BuchDie deutsche Hysterie

Auf der Couch sitzen und übelnehmen: Das war nach Kurt Tucholsky die Lieblingsreaktion halb Deutschlands, wenn „das Ausland“ wieder einmal zu einer seiner Gemeinheiten gegen unsere geschundene Nation ausgeholt hatte. Sollte jemand der Meinung gewesen sein, die Deutschen hätten jetzt endlich ihre Fixierung auf das, was die anderen über uns sagen, ihre zwischen Inferioritätsgefühlen und Größenwahn pendelnde Selbsteinschätzung abgelegt, so sah er sich nach dem vom perfiden Albion losgetretenen „antideutschen“ Fußballkrieg eines Besseren belehrt. Selbst die Redaktion der taz, bekanntlich kein Hort des Patriotismus, konnte sich der allgemeinen Gefühlsaufwallung nicht gänzlich entziehen. Vergeblich hatte ein englischstämmiger Kollege davor gewarnt, auf die Spielchen der englischen Boulevardblätter mit eingeschliffenen Reflexen zu reagieren. Was zuviel war, war zuviel.

Wenn aber zur Gemeinheit sich noch Undankbarkeit gesellt, läuft das Faß wirklich über. Hat da doch ein Türke, der sich unter Ausnutzung grüner multikultureller Naivität nicht nur die deutsche Staatsbürgerschaft, sondern auch noch den Beamtenstatus erschlichen hat, in der Türkei ein Buch veröffentlicht, in dem er wahre Haßtiraden über unser Vaterland ausschüttet. Was Ozan Ceyhun in seinem Buch „Ein Türke in Deutschland“ über Rassismus, Asyl und das neue „großdeutsche“ Reich erzählt, scheint nicht gerade von Beobachtungsgabe und Scharfsinn zu strotzen. Die Frage müßte also lauten: Wie muß es um eine Partei, die Grünen, bestellt sein, in der es ein derart doofer Typ bis zum ministerialen Abteilungsleiter schaffen kann? Statt darüber Klarheit zu gewinnen, wird – hauptsächlicher konservativerseits – über die „dumpfe Hetze gegen Deutschland“ gewehklagt. Disziplinarische Maßnahmen werden eingeklagt. Der hessische Landtag muß debattieren.

Istvan Bibo, der große ungarische Soziologe und Historiker, hat sich vor mehr als fünfzig Jahren mit den Ursachen der „deutschen Hysterie“ beschäftigt. Zu den Symptomen dieser Krankheit rechnete er die ständiger Klage, von niemandem verstanden, in seiner Größe verkannt, immer gedemütigt zu werden – immer Opfer zu sein. Die „deutsche Hysterie“, neu aufgelegt, sie ist noch nicht vergriffen. Christian Semler

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