: Keine Panik vor der grünen Gefahr
■ In der Türkei sorgt die Ernennung des Islamisten Erbakan zum neuen Regierungschef für wenig Aufregung
Istanbul (taz) – Die türkische Bevölkerung reagiert gelassen auf ihren neuen Ministerpräsidenten. Viele der säkularen BürgerInnen nehmen den Aufstieg des Islamisten Necmettin Erbakan zwar mit Verbitterung zu Kenntnisse. Doch öffentliche Protestaktionen blieben in der laut Verfassung laizistischen Republik bisher aus.
Die Selbstzerfleischung der bürgerlichen Rechtsparteien, der Partei des rechten Weges unter Tansu Çiller und der Mutterlandspartei unter Mesut Yilmaz, sowie unzählige Korruptionsaffären haben den Islamisten den Weg in die Regierung geebnet. Die bürgerliche Koalition zwischen den Parteien Çillers und Yilmaz' hatte sich in nur drei Monaten ad absurdum geführt. Das Fehlen einer politischen Alternative erschwert öffentlichen Widerstand gegen Erbakans Ministerpräsidentschaft.
Tansu Çiller, nun Außenministerin im Kabinett Erbakans, hat es trotz eines halben Dutzends Dissidenten in der eigenen Partei geschafft, daß ihre Fraktion der neuen Koalition am Montag das Vertrauen aussprach. Çiller, die in unzählige Korruptionsaffären verwickelt ist, hofft durch das Bündnis mit den Islamisten, persönlicher Rechenschaftspflicht zu entgegen. Doch obwohl weite Teile der Fraktion noch hinter ihr stehen, hat sie ihre Wähler und die säkulare Öffentlichkeit längst verloren. Die großen Medienkonzerne, die noch vor sieben Monaten Wahlkampfpropaganda für Çiller betrieben, bezichtigen sie des „Verrats“ an den Wählern. Keine einzige bürgerliche Tageszeitung hält mehr zu Çiller. Der Chefredakteur von Hürriyet (Die Freiheit), Ertugrul Özkök, verglich Çiller mit Kerenski und Barabbas. Der eine habe das russische Zarenreich den Bolschewiken ausgeliefert, der andere sei nur deshalb gerettet worden, weil Jesus gekreuzigt wurde. Bestenfalls ginge Çiller als Kerenski in die Geschichte ein, schlimmstenfalls als Barabbas. Der islamistische Autor Ismet Özel hat die Antwort schon gefunden: „Frau Çiller wird ihren Schwanz nicht mehr aufrecht halten können.“
Jedoch muß die Hypothese, daß die neugebildete Koalition wegen inhaltlicher Differenzen zum baldigen Scheitern verurteilt ist, nicht zutreffen. Çiller ist auf Gedeih und Verderb auf Erbakan angewiesen, und dieser muß ihr für seine Ernennung danken. „Küß sie doch, küß sie doch“, ertönte es von den Oppostionsbänken, als sich Erbakan nach der Vertrauensabstimmung bei Çiller bedankte.
Auch die Generäle, die Erbakan stets mißtrauten, hielten sich diesmal zurück. Der ehemalige Generalstabschef Dogan Güreș, heute Abgeordneter von Çillers Partei des rechten Weges, erschien einfach nicht zur Abstimmung. Ömer Erzeren
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