Mit Mütze und vor Barometer

■ Fast alle unsere Dichter sind jetzt da: im neuen Berliner Autorenlexikon. Und zwar mit Konterfei und Textprobe

Wer von einem Schriftstellerlexikon mehr erwartet als Auskunft über bio- und bibliographische Daten, ist mit dem gerade im Aufbau- Verlag erschienenen Buch „Berlin – ein Ort zum Schreiben“ gut bedient. 347 Autoren, ein Zehntausendstel der Berliner Bevölkerung, sind in dem Band vertreten, den Karin Kiwus im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste herausgegeben hat. Die Schriftsteller werden in Text und Bild vorgestellt. Dazu gehören nicht nur die wichtigsten Daten, Mitgliedschaften, gewonnene Preise und so weiter, sondern auch Leseproben aus aktuellen, teilweise sogar noch unveröffentlichten Texten.

Derartige Autorenzusammenstellungen sind immer das Ergebnis von Kompromissen. An einem krankt das Buch der Akademie allerdings besonders: „Berlin – ein Ort zum Schreiben“ – meint das auch die Schriftsteller am Stadtrand, etwa Rolf Schneider in Schöneiche? Oder Autorinnen jenseits der Glienicker Brücke wie Sigrid Grabner und Helga Schütz? Die Lösung des Problems besteht hier in einer merkwürdigen Inkonsequenz: Während für das Berliner Stadtgebiet das Kriterium relativer Vollständigkeit gilt, zählt für Brandenburg die Repräsentativität der Autoren.

Für das Umland heißt das: Um als Autor noch Aufnahme in das Werk zu finden, muß man um so bedeutender sein, je weiter weg man wohnt. So durften Günter de Bruyn (Beeskow) oder Fritz Rudolf Fries (Petershagen) nicht fehlen, die einstige DDR-Künstlerprominenz aus Kleinmachnow hat dagegen das Nachsehen. Die Großstadt schmückt sich mit ein paar Perlen vom Lande, so sieht es aus. Für eine herausgebende Akademie, die sich Berlin-Brandenburgische nennt, ist das kein rühmliches Verfahren. Nicht nur Berlin, sondern auch Brandenburg sollte Gelegenheit bekommen, seine vielen unbedeutenden Schriftsteller vorzustellen!

Abgesehen von der Mogelpackung in Sachen Brandenburg ist ein akribisch zusammengestelltes Nachschlagewerk entstanden, das eine Vorstellung von der reichen Literaturlandschaft Berlin gibt. Zuallererst fällt auf: Diese Landschaft ist östlicher geprägt, als man vielleicht glaubt. Mehr als die Hälfte der Schriftsteller wohnt im Ostteil der Stadt, und viele der Westbewohner kommen gleichfalls aus dem Osten. Sie haben sich – oft auf abenteuerlichen Wegen von Prag oder Bukarest, Moskau oder einfach nur von Ost-Berlin aus – zumeist vor 1989 nach West- Berlin durchgeschlagen.

Häufiger als in anderen Städten sind die Biographien der Schriftsteller in Berlin unmittelbar von den historischen Verwerfungen unseres Jahrhunderts geprägt. Dafür hat die über ein halbes Jahrhundert währende Kontinuität von Zensur und Verfolgung in ihrer jeweils systemspezifischen Ausprägung gesorgt.

Als eine „Wanderungs-Karte“ beschreibt Akademiepräsident Walter Jens das Autorenbuch in seinem Vorwort mit Blick auf die Lebensläufe der Autoren: „Geboren in Deutschland, verjagt und vertrieben, heimgekehrt nach Berlin, groß geworden, nicht zuletzt in der Emigration, irgendwo zwischen Baschkirien und den Vereinigten Staaten.“

Sieben Jahre nach dem Fall der Mauer finden sich Jürgen Fuchs und Hermann Kant in demselben Buch wieder. Wolfgang Menge steht ein paar Seiten hinter den schreibenden Funktionären Günter Görlich und Gerhard Holtz- Baumert vom ZK der SED (das müßte mal einer untersuchen: warum gerade Kinderbuchautoren die größten Fieslinge waren). Der frisch gekürte Bachmannpreisträger Jan Peter Bremer (31) teilt sich eine Doppelseite mit der Ostberliner Schriftstellerin Elfriede Brüning (Jahrgang 1910). Hier stehen große Schriftsteller neben bescheidenen Talenten, schreibende Künstler neben Journalisten, bekannte Namen wie Stephan Hermlin oder Stefan Heym neben unbekannten wie Rudolf Leder oder Helmut Flieg, und auch Reinhard Mey und Ulla Meinecke fehlen nicht. Viele Schriftsteller stammen aus der Türkei, aus der Schweiz und Österreich.

Ebenso unterschiedlich wie Herkunft, Alter und Prominenz der Autoren ist der Anspruch der abgedruckten Leseproben. Neben Gedichten sind Kurzgeschichten, Romanauszüge, Hörspielszenen, Notate oder Essayfragmente abgedruckt. Wen das alles nicht interessiert, der kann sich immerhin noch an den Fotoporträts ergötzen. Sie stammen, wenn nicht aus privater Hand, zumeist von Renate von Mangoldt, Isolde Ohlbaum und Roger Melis. Hier kann man Durs Grünbein mit Russenmütze sehen, Klaus Möckel in seiner Wohnung (im Hintergrund Zimmerpalme und Barometer), und bei Thomas Hettche fällt auf, daß er inzwischen tatsächlich noch ein bißchen feister geworden ist. Alles in allem ist ein Buch mit beachtlichem Informationswert entstanden, ein Auskunfts- und Lesebuch zugleich.

„Berlin – Ein Ort zum Schreiben. 347 Autoren von A bis Z. Porträts und Texte“. Hrsg. von Karin Kiwus im Auftrag der Akademie der Künste, Aufbau-Verlag, 560 Seiten, 49,90 DM