Hör' ich das Wort Revolver...

... entsichere ich meine Kultur – Warum es sich schon wieder oder immer noch lohnt, über Gewalt im Kino zu reden. Eine Debattenreihe in acht Folgen. Erster Teil: Das Unbehagen in der Gewaltkritik von links  ■ Von Mariam Niroumand

Das Thema kommt nicht zur Ruhe. Immer neue Filme arbeiten sich daran ab. „Gewalt im Kino“ begegnet einem in der Debatte meist in Form von Bezichtigungsrhetorik oder als Apologie. Gerade erst hat Hollywoods Bestsellerautor John Grisham eine Polemik gegen Oliver Stone verfaßt, weil dessen Film „Natural Born Killers“ (1994) zwei aktuelle und insgesamt sechs Nachahmungsmorde nach sich gezogen haben soll. Patsy Byers, eine inzwischen im Rollstuhl sitzende Überlebende, hatte Stone und Warner Brothers verklagt. Die Filmpresse nimmt Stone mit den klassischen Argumenten in Schutz: Eine direkte Manipulation kann nicht nachgewiesen werden (die Leute haben vorher schon gesponnen), oder wenn, hängt sie nicht am Medium Film (hier wird gern der „Werther-Effekt“ bemüht), und dann führt der Film ja nur vor, wieviel Gewalt ohnehin in unserer Gesellschaft... und überhaupt bleibt die Kunst die Kunst, und es ist magisches Denken, zu befürchten, daß sie wirklich ins Soziale ausgreifen könnte.

Inzwischen häufen sich aber innerhalb der liberalen Milieus die Bedenken. Hans Magnus Enzensberger stellte in seinen „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ fest, das Massaker sei zur Massenunterhaltung geworden, während es um die Jahrhundertwende noch Kult der Avantgarde war. Man meint, ihn von Woody Harrelson und Juliette Lewis in „Natural Born Killers“ sprechen zu hören, wenn er schreibt: „Ihre Medientrance erklärt sich nicht aus Nachahmungseffekten, sondern aus der direkten Rückkopplung zwischen Abbildung und Wirklichkeit. Es kommt ihnen so vor, als schlügen sie nicht wirklich andere tot, als sei das alles nur Fernsehen. (...) Die Medien verdoppeln gewissermaßen die irreal gewordene Person und liefern ihr eine Art Existenzbeweis“, eine „Prothese für das autistisch geschrumpfte Ich.“

Das Kino als römische Arena

Die Medien, vor allem die visuellen, haben nichts mehr dazwischenzuschalten zwischen sich und ihre Protagonisten. Je mehr Unmittelbarkeit, desto weniger Distanz, desto mehr Gewalt. Es klingt durch, daß Gewalt sich nicht mit Kunst verträgt. Wo Unterhaltung sein soll, kann keine Aggression sein. „Hör' ich das Wort Revolver, greif ich nach meiner Kultur“ – in diesem auf den Kopf gestellten Zitat des Dramatikers Hanns Johst, das gern am Rand der Debatten über Holocaust-Mahnmale in verzweifelter Selbstironie fällt, steckt immer noch die Vorstellung, daß Kultur ihre Konsumenten besser machen muß. Es hallt etwas vom „interesselosen Wohlgefallen“ nach, das sich mit einer Vorstellung vom Kino als römischer Arena nicht verträgt.

Während sich Enzensbergers Reaktion wohl eher aus der Enttäuschung der Hoffnungen speist, die er und andere einmal in die Medien und deren Benutzer gesetzt hatten, betrachtet die feministische Kritik Gewaltphantasien im Kino als „männlichen Härtekitsch“. In der taz schrieb Halina Bendkowski über „Henry – Portrait of a Serial Killer“, es handle sich um eine „ästhetische Vergeilung der splatternden Gewalt. (...) Ihre Erkenntnis gleicht immer mehr einem Bekenntnis: Gewalt muß sein, Gewalt ist Wahrheit, Gewalt schafft Klarheit. Diese Kunst braucht den ganzen Mann. Und nur richtige Männer setzen Männern, die noch nicht recht Männer sind, mächtig zu.“

All diesen Texten, denen der Apologeten und denen der Ankläger, ist gemein, daß die Gefährdung durch Gewaltdarstellungen fast immer andere trifft: Andere werden aufgeheizt, angespornt, manipuliert. Wo die subjektiven Verträglichkeiten liegen, und wo ihre Grenzen liegen, bleibt meist im dunkeln. Das ist auch nicht verwunderlich. Schließlich mobilisiert Gewalt im Kino die älteste Neugier überhaupt: die von den Grenzen der Kontrollierbarkeit des Körpers. Mit dieser Erfahrung ist man allein, mit Zustimmung oder Ablehnung rettet man sich vor ihr zurück ins Soziale.

Unsereins, Kinder der Enzensbergers, kannte Gewalt im Kino – ich meine: richtige Gewalt, nicht die Kinnhaken von Bud Spencer – aus dem „Politfilm“ (in den siebziger Jahren nannte man sie „Sprechanlaß-Film“). Vage kann ich mich an Folterszenen aus einem Film über den algerischen Befreiungskrieg erinnern, den wir im Zeltlager des Sozialistischen Jugendverbandes Die Falken unter freiem Himmel sahen, mit anschließendem „Gespräch“, oder an den ermordeten Priester in dem schrecklichen Rossellini-Film „Rom, offene Stadt“ oder Dennis Hopper in seinem Film „Easy Rider“, den ich beschämenderweise sechsmal gesehen habe. Jedenfalls konditionierten diese Filme einen wohl dazu, immer eine Art von sinnhafter Erzählung mit Gewalt zu verbinden: Einer wird gefoltert oder erschossen, weil man etwas von ihm wissen will, weil er ein Wiedergänger Jesu ist, weil die anderen ohne ihn leichter regieren können.

Gewalt als Stil, Gewalt als Manifest

Erste Irritation: John Boormans „Deliverance“, in dem vier Freunde an einem Urlaubswochenende auf einem Kanu in den Flüssen und Sümpfen bei New Orleans paddeln. Je tiefer sie hineingeraten, desto häufiger wird einer von ihnen verletzt, vergewaltigt oder erstochen von seltsamen, ledergesichtigen Flußbewohnern, die aber keine Aliens sind, sondern irgendwie Vormoderne, die versuchen, das Näherrücken der Zivilisation zu verhindern. Das mag zwar noch irgend eine Art von „Motiv“ darstellen, aber es lappte schon eher hinüber in „Stil“, Gewalt als „Ambiente“. Die berühmte Szene aus Tarantinos „Reservoir Dogs“, in der Michael Madsen einen gefesslten Polizisten umkreist und ihm ankündigt, er werde ihm gleich das Ohr abschneiden, hat mir deshalb den Rest gegeben, weil Madsen nichts, aber auch gar nichts von seinem Opfer will. Es geht nicht mehr um Information, um Gefügigmachen, nicht einmal mehr unbedingt um Sadismus. Es geht einfach um das Ohrabschneiden.

Hier war Gewalt nun komplett Stil geworden, narrativ mit nichts mehr vertäut, auch nicht mehr mit Wut, aber das schien mir deshalb noch akzeptabel, weil der Stil insgesamt „funktioniert“. Daß es solche Fälle gibt, in denen Gewalt als ästhetische Anschlußoperation sein muß (das gilt auch für Splatterfilme), leuchtet mir viel mehr ein, als daß Jean-Luc Godard nach Sarajewo fährt, um den Menschen dort einen anspruchsvoll montierten Film („Forever Mozart“) über den Krieg, die Schreie, die Vergewaltigungen und die Morde zu zeigen, die sie gerade erlebt haben.

Ebensowenig leuchtet mir „The Prodigal Son“, ein holländischer Kurzfilm von Chris Mitchell, ein, der dieser Tage auf diversen Festivals herumgereicht wird: Ein Stricher läßt sich von einem Mann mit nach Hause nehmen, der etwas verklemmt wirkt und ihn an allen vieren nackt auf dem Bett festbindet. Die Kamera zeigt aus seiner Perspektive, wie etwas den Flur entlang auf ihn zuschlurft, was sich schließlich als die kleine Mutter seines „Freiers“ in Morgenrock und lustigen Löckchen entpuppt. Sie beugt sich über ihn, die Kamera fährt auf Wandposter der lachenden Beatles und zu ihr zurück, die ihm dann etwa fünf Minuten lang zu seinen gellenden Schreien die Brustwarze abbeißt. Der Sohn hat sich derweilen ein Faschingshütchen aufgesetzt. Hier werden alle Beteiligten, Zuschauer wie Protagonisten, zugleich gequält und verarscht – die einzige Mischung, die wirklich unerträglich ist.

Unsere Debatte zum Thema „Gewalt im Kino“ wird nächste Woche fortgesetzt mit einem Beitrag des Essayisten Michael Rutschky. Es folgen unter anderem: Georg Seeßlen (Filmwissenschaftler), Kurt Scheel (Herausgeber des „Merkur“), Christoph Schlingensief (Filmemacher)