Mehr Leerstellen als Lehrstellen

■ Um die Appelle des Bundeskanzlers schert sich die Wirtschaft nicht, seine Förderprogramme reichen nicht aus: Jeder fünfte Schulabgänger findet in diesem Jahr keinen Ausbildungsplatz Von Annette Rogalla

Mehr Leerstellen als Lehrstellen

Helmut Kohl verschaffte sich Luft: „Ich finde, es macht keinen guten Eindruck“, schnaubte er, „mit dem Bundeskanzler zu einer Asienreise aufzubrechen und stolz auf dieses Land Bundesrepublik Deutschland zu sein und daheim die Lehrstellen zu kürzen.“ Vier Wochen ist es her, daß der Kanzler 2.000 Manager beim Wirtschaftstag der CDU an ihre Zusage erinnerte, in diesem Jahr zehn Prozent mehr Lehrstellen zur Verfügung zu stellen. Gefruchtet hat es nicht.

Vergangenes Wochenende präsentierte der grollende Kanzler seine eigene kleine Lösung: In diesem Ausbildungsjahr sollen 14.300 neue Lehrstellen in Ostdeutschland staatlich gefördert werden. Der Bund wird jede neue Lehrstelle, die eine Kommune oder ein Existenzgründer oder eine Vollzeitschule einrichtet, mit 13.250 Mark unterstüzen; die gleiche Summe muß das jeweilige Land aufbringen. „Die Mittel reichen nicht aus“, kritisiert Werner Ballhausen, Staatssekretär für Bundesangelegenheiten des Landes Sachsen-Anhalt, den Maßnahmenkatalog. Noch im vergangenen Jahr habe der Bund mehr Geld zugeschossen.

Noch nie war es für einen Jugendlichen so schwierig, einen Ausbildungsplatz zu finden, wie heute. Erstmals seit der Vereinigung fehlen im gesamten Bundesgebiet fast 119.000 Ausbildungsplätze. Sollten alle derzeit angebotenen Lehrstellen besetzt werden, geht trotzdem jeder fünfte Jugendliche leer aus.

Im vergangenen Ausbildungsjahr hielten sich Angebot und Nachfrage wenigstens noch rechnerisch die Waage. In diesem Jahr strömen bis zum Herbst rund zehn Prozent mehr Schulabsolventen auf den Markt. Gleichzeitig melden die Arbeitsämter einen Rückgang der Ausbildungsplätze von etwa neun Prozent.

Seit Jahren schrumpft das Lehrstellenangebot. In der Elektro-, Metall- und Chemiebranche ist in den vergangenen zehn Jahren jeder zweite Ausbildungsplatz „verlorengegangen“. Im Schnitt bildet in Westdeutschland nur noch jeder dritte Betrieb aus. Im gleichen Zeitraum aber stieg die staatliche Subventionierung stetig an. Vier von fünf Ausbildungsplätzen in Sachsen werden bereits vom Steuerzahler gesponsert, ebenso in Brandenburg. Selbst im leistungsstarken Nordrhein-Westfalen wird jede vierte Lehrstelle bezuschußt.

Zuweilen nimmt der einsame Kampf um einen Lehrvertrag groteske Züge an. In Berlin unterzeichnete jüngst eine junge Frau ihren Ausbildungsvertrag als Schneiderin. Der Kontrakt mit der Staatsoper enthält einen gemeinen Passus. Die Frau verzichtet auf eine Ausbildungsvergütung. Der Betriebsrat des defizitären Hauses hat dem Deal zugestimmt.

Das Beispiel könnte Schule machen. Vor vierzehn Tagen legte der Deutsche Industrie- und Handelstag gemeinsam mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks einen 16-Punkte-Plan vor. Darin fordern die Verbände eine Absenkung der tarifvertraglichen Ausbildungsvergütung um ein Drittel, höchstens 700 bis 800 Mark sollen Lehrlinge bekommen; außerdem sollen sie sich mit weniger Urlaubstagen zufriedengeben, und tarifvertragliche Garantien für ihre Einstellung nach dem Ausbildungsende sollen storniert werden. Die Wirtschaftsverbände aber zieren sich zu sagen, wie viele Ausbildungsplätze ihre Mitgliedsunternehmen im Gegenzug definitiv bis zum Herbst zur Verfügung stellen wollen. Gestern sagte Fritz Himmelreich vom Arbeitgeberverband BDA: „Die Wirtschaft wird auch in diesem Jahr die Jugend nicht im Regen stehen lassen.“

Die Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD) und Kurt Biedenkopf (CDU) fordern, drei Lehrlinge sollten sich zwei Lehrstellen teilen.

„All das schafft keine neuen Ausbildungsplätze, weil sich die Unternehmen ihrer Verpflichtung entziehen, diese bereitzustellen“, kommentiert Joachim Koch-Bantz vom DGB. Der Gewerkschaftssekretär arbeitet in der Abteilung Bildung des DGB und favorisiert wie alle Gewerkschafter einen Lastenausgleich. Die Zwangsabgabe soll von allen Betrieben kassiert werden, die nicht ausbilden.

Die Idee ist nicht neu, sie scheiterte bereits einmal 1980 zum Ende der sozialliberalen Ära am Widerstand der Wirtschaft. Die Argumente von einst gelten für das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung noch heute: Eine Umlage verursache Mehrkosten, gebe den Gewerkschaften mehr Macht, zudem gehe die Qualität der Ausbildung zurück.

Immerhin würde sie jedoch einer nennenswerten Zahl von Jugendlichen eine Ausbildung ermöglichen. Doch so geht der Kampf um die Lehrstelle unter sich verschärfenden Bedingungen weiter: Abiturienten verdrängen Realschüler, diese schieben die Hauptschüler beiseite. Ist die Hürde Ausbildungsplatz genommen, scheitern zunehmend mehr Lehrlinge an der zweiten. Nach der Lehre melden sich in Westdeutschland mittlerweile fast zwanzig Prozent der jungen Leute arbeitslos, in Ostdeutschland sind es dreißig Prozent. Pro Jahr sind 100.000 ausgebildete Berufsanfänger ohne Arbeit. Fast so viele, wie heute vergeblich eine Ausbildung suchen.