Schlafentzug auf dem Schienenstrang

■ Neu im Kino: „Unter der Milchstraße“ von M.X. Oberg / Stilsicher und elegant

Ein Schlafwagenschaffner hat es schwer: Nachts bei seiner Arbeit darf er nicht schlafen, und am Tag sitzt er meist in dem schäbigen Bahnhofsviertel irgendeiner europäischen Großstadt fest und muß sich mit zwielichtigen Gestalten, den merkwürdigen Kollegen und seiner permanenten Müdigkeit abplagen. So schildert es zumindest M.X. Oberg in seinem Erstlingsfilm. Und er weiß, wovon er erzählt; denn um sein Studium der Astro-Physik und Philosophie zu finanzieren, hat er zwei Jahre lang für eine Schlafwagen-Gesellschaft gearbeitet. Und so sehen wir auch seinen Kinohelden beim Heimaturlaub in einem Vorlesungssaal sitzen und schlafen, während sein Professor von Sternennebeln und schwarzen Löchern doziert. Kein Wunder, daß Oberg seinen Film „Unter der Milchstraße“ genannt hat und kein Akademiker, sondern Filmemacher geworden ist.

Statt präziser Logik und wissenschaftlichen Fakten faszinieren ihn mehr fantastische Visionen und diffuse Traumbilder; denn aus solchen ist sein Film zusammengesetzt. Wie sein junger Schlafwagenschaffner durch den Schlafentzug in rauschhafte Zustände versetzt wird, in denen die Grenzen zwischen Realität und Trugbild verwischen, so inszeniert auch der Regisseur die verschiedenen Episoden, Zugfahrten und Abenteuer des Films als einen den Zuschauer permanent irritierenden Trip – als Traumreise im Zugabteil.

Dazu spielt er einfallsreich mit den Erwartungen des Zuschauers: Dramaturgische Stränge brechen kurz vor der Auflösung ab, man sieht nie die Konsequenzen, die die Aktionen der Filmfiguren eigentlich auslösen müßten, und der Gegenschuß in einer Dialogszene kann uns schon in einen anderen Zug in einem anderen Land versetzen. Auch die Tonspur ist sehr geschickt so abgemischt, daß man ständig die Orientierung verliert. Dazu versetzt die schwebend-melancholische Tangomusik von Astor Piazzolla das Publikum in eine angenehm schläfrige Grundstimmung.

Zuerst ist der Filmheld ein liebes, recht einfältiges Unschuldslamm, das von allen übers Ohr gehauen wird. Aber langsam lernt er, wird souveräner und schließlich so gerissen, daß man ihn gegen Ende des Films längst nicht mehr so sympathisch findet. Auch hier spielt der Regisseur mit den Konventionen und Erwartungen.

Dem jungen, unbekannten Fabian Busch gelingt in der Hauptrolle diese Verwandlung einigermaßen überzeugend, obwohl seine Augen immer den gleichen tranigen Blick haben. In einigen Szenen stiehlt ihm Detlev Buck als hemdsärmeliger Kollege die Show, und auch neben Sophie Rois („Wir können auch anders“) sieht Busch etwas blass aus. Aber das mag ganz im Sinne des Regisseurs liegen, denn ein allzu lebendiger Schlafwagenschaffner wäre der einzige Stilbruch in diesem so eleganten und stilsicheren Film gewesen.

Wilfried Hippen

Cinema, tägl. 23 Uhr