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Gent und Bremen „samen sterk“

■ Ein Jahr nachdem das belgische Unternehmen Sidmar die letzten Klöckner-Anteile am Stahlwerk Bremen übernommen hat, werden die beiden Hütten systematisch verglichen und dabei rationalisiert

„Sidmar en Stahlwerke Bremen: samen sterk“ – Sidmar und Stahlwerke Bremen: zusammen stark – gelb leuchtet das Plakat vom Steuerstand des Kaltwalzwerks in Gent. Daß ausgerechnet dieses belgische Stahlwerk und die Hütte in Bremen zusammen stark werden könnten – als sich Sidmar 1993 an dem Bremer Interessentenmodell zur Rettung der ehemaligen Klöckner-Hütte beteiligte, mochte das kaum jemand glauben. Zu ähnlich seien die beiden Stahlwerke, um sich sinnvoll zu ergänzen, hieß es. Wahrscheinlich habe Sidmar nur im Sinn, die Bremer Hütte ganz zu übernehmen und dann möglichst schnell die Schließungsprämien der Europäischen Union zu kassieren. Doch heute, genau ein Jahr nachdem Sidmar die restlichen Anteile von Klöckner an der Bremer Hütte übernommen hat und sie damit zu 68 Prozent besitzt, ist die Skepsis in Bremen verflogen. Und in Gent ist die Stärke durch Zusammenarbeit sogar zur allgegenwärtigen Parole geworden.

Gent und Bremen – schon der Weg zu den beiden Stahlwerken ist überraschend ähnlich. In beiden Städten geht es rund 20 Kilometer aus dem hansestädtischen Zentrum heraus, beide Hütten haben einen eigenen Erz- und Kohlehafen am seeschifftiefen Wasser. Und beide Stahlwerke sind wie eine Campus-Universität auf der grünen Wiese entstanden, Bremen in den 50er, Gent in den 60er Jahren. Auch die Hochofenkapazität und die technischen Voraussetzungen für die Stahlproduktion sind fast identisch. Einziger Unterschied: In Gent wird der Koks für das Stahlkochen in einer eigenen Kokerei hergestellt, in Bremen fertig eingekauft. Deshalb ist die Belegschaft in Gent mit 5.600 etwas größer als in Bremen mit 4.300.

Klassische Synergieeffekte sind bei soviel Ähnlichkeit nicht zu erwarten, denn keines der beiden Stahlwerke kann etwas, was nicht auch das andere könnte. Trotzdem hat die Zusammenarbeit zwischen Gent und Bremen im letzten Jahr zu Einsparungen von rund 30 Millionen Mark geführt, 150 Millionen sind als jährliches Einsparungsziel angepeilt. Das Zaubermittel dafür heißt „Benchmarking“, ein Begriff, der zwar in beiden Stahlwerken in aller Munde ist, dessen wörtliche Bedeutung aber niemand kennt.

Dabei waren bis heute bereits rund 300 Stahlwerker am Benchmarking direkt beteiligt. Einen Monat in Gent, den nächsten Monat in Bremen – immer abwechselnd treffen sich gemischte Arbeitgruppen aus allen Unternehmensbereichen und erklären sich gegenseitig, wie sie ihre Arbeit tun. Mal hat dann die eine Seite den besseren Lieferanten für das Kleinmaterial im Bürobereich, mal hat die andere Seite einen Trick gefunden, mit besonders wenig teurem Schmieröl auszukommen. Mehrere hundert Seiten umfassen inzwischen die Berichte, die die Arbeitsgruppen nach diesem „Benchmarking“ verfassen.

Sehr vieles davon ist Kleinkram, wirkt sich aber in der Menge trotzdem positiv auf die Unternehmensbilanz aus. Ab und zu sind die Arbeitsgruppen aber auch auf dicke Fische gestoßen. Zum Beispiel beim Schleifen der Walzen für die Flachstahlpressen: Sidmar hat dafür ein Gerät erfunden, das die Walzen mit einer perfekt angepaßten Rauhigkeit überzieht. Ein Elektronenstrahl ersetzt dabei die traditionellen Metallspäne als Schleifmittel. Das Patent ging innerhalb des inzwischen gemeinsamen Unternehmens für eine Mark nach Bremen und führt dort inzwischen zu Einsparungen von rund einer Million Mark im Jahr.

Umgekehrt hatten die Bremer Stahlwerker eine Technik entwickelt, die es ermöglicht, ohne Investitionen die Kapazität der Stranggußanlage deutlich zu erhöhen. Hier wird das aus dem Erz herausgelöste glühende Eisen zu meterbreiten und 50 cm dicken Endlossträngen gegossen. Das Bremer Verfahren ermöglicht es, die gewünschte Qualität des dabei produzierten Stahls zu verändern, ohne die Anlage zu stoppen. Die Übertragung des Bremer Tricks spart in Gent inzwischen runde 2,7 Millionen Mark im Jahr.

Immer wieder führt das Benchmarking natürlich auch zu Rationalisierungen. Arbeit im Umfang von rund 300 Stellen konnte im Bremer Stahlwerk durch den Vergleich mit Gent im letzten Jahr eingespart werden. Durch drastischen Abbau von Überstunden hat sich im Saldo die Zahl der Arbeitskräfte allerdings sogar wieder leicht erhöht. Auch die Stahlkonjunktur hat sich dabei – bis auf einen Einbruch im vergangenen Herbst – positiv ausgewirkt.

Und so wird das Benchmarking auch von den Gewerkschaften wohlwollend begleitet. „Es ist noch zu früh, uns definitiv dazu zu äußern“, sagt Alex Buise vom christlichen Gewerkschaftsbund in Gent vorsichtig. Und dem Bremer Betriebsratsvorsitzenden Eike Hemmer fällt lediglich aus Unternehmersicht eine mögliche Kritik ein: „Wenn man sich immer nur untereinander vergleicht, wird man höchstens so gut wie der andere.“

Dies bestreitet Jacques Derycke, technischer Vorstand von Sidmar, energisch. Der ständige Austausch zwischen den beiden Werken habe auch zu völlig neuen Ideen geführt – ganz abgesehen von den positiven menschlichen Kontakten, die beim Benchmarking entstehen.

Meistens deutsch, manchmal englisch, fast nie niederländisch ist die gemeinsame Sprache beim Benchmarking. Doch zumindest ein passives Verständnis der jeweils anderen Sprache sollen alle Beteiligten bekommen, spezielle Kurse werden dafür in Bremen wie Gent angeboten. Schließlich werden alle Berichte lediglich in einer einzigen Sprache verfaßt, Übersetzungen gibt es nicht.

Regelmäßiger Austausch ist auch für die Gewerkschaftsvertreter inzwischen selbstverständlich geworden. Immer wieder setzen sie sich in Gent oder Bremen zusammen; und wenn es brenzlig wird, greifen sie einfach zum Telefon. Zum Beispiel, als in Bremen im vergangenen Herbst plötzlich Kurzarbeit angeordnet wurde. „Da kam natürlich sofort die Sorge auf, daß Sidmar uns jetzt doch austrocknen will“, erinnert sich Eike Hemmer. Ein Anruf bei den Kollegen in Gent beruhigte den Betriebsratschnell: Gleichzeitig war auch auf der belgischen Hütte mit Kurzarbeit begonnen worden, am Ende dauerte sie dort sogar länger als in Bremen.

Tatsächlich sind nicht nur die Werke, sondern auch die tariflichen und sozialen Verhältnisse in Gent und Bremen sehr ähnlich. Zwar gibt es in Belgien weder Betriebsräte noch Mitbestimmung wie in Deutschland. Doch der Begriff „Sozialpartnerschaft“ ist in Gent trotzdem geläufig. Drei konkurrierende Gewerkschaften haben mitten auf dem Werksgelände ihre Bürocontainer aufgestellt, ein dutzend Gewerkschafter wird nach Wahlen vom Betrieb freigestellt. Einen Sitz im Aufsichtsrat würde zumindest die sozialistische Gewerkschaft gar nicht haben wollen. Viel zu sehr würde man damit in die Logik der Unternehmerseite eingebunden, heißt es.

Und wenn es um Tarifauseinandersetzungen geht, dann wird in Gent wie in Bremen hanseatisch kühl und sachlich verhandelt. Kein Vergleich mit den spontanen und fast kriegerischen Arbeitskämpfen im wallonischen Teil Belgiens. Beim letzten Streik in einem der beiden dortigen Stahlwerke war kurzerhand der Direktor gefangengenommen worden, berichten Gewerkschafter wie Vorstand des Genter Stahlwerks amüsiert. Bei ihnen wäre so etwas undenkbar und in Bremen nach dem gemeinsamen Kampf um den Erhalt der Hütte mit der nicht nur symbolischen Umarmung von Beteriebsratschef Peter Sörgel und Werksdirektor Klaus Hilker sowieso.

Sidmar rêve a l'Allemagne“ – Sidmar träumt von Deutschland – hatte die wallonische Tageszeitung „La libre Belgique“ im Juni 1994 getitelt. Beim Durchblättern der alten Zeitungsausschnitte zwei Jahre später – mit der Zwei-Drittel-Mehrheit an den Stahlwerken Bremen im Rücken – lächelt Sidmar-Vorstand Derycke über die Skepsis, die auf beiden Seiten vor der Übernahme der Bremer Hütte durch das Stahlwerk in Gent stand. „Für uns war das eine strategische Entscheidung. Wir liegen mit dem Arbed-Konzern jetzt auf Platz acht der weltweit größten Stahlproduzenten, vier Plätze vor Thyssen und weit vor Krupp. Schon deshalb wollen wir auch in Zukunft mit Bremen zusammenbleiben.“

Dirk Asendorpf

Siehe auch „Nachgefragt“ mit Sidmar-Vorstand Derycke, S.26.

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