Khartum – verlassen und verratzt

Streifzüge durch die Hauptstadt des Sudan. Wo einst die Briten mit kolonialen Wohltaten herrschten, geben heute die Islamisten den brutalen Ton an  ■ Von Ulla Ackermann

Allah u akbar!“ Aus der Spitze des höchsten Minaretts der Moschee am Grabmal al-Mahdis tönt der Anfang zum zweiten Gebet des Tages. Wieder scheint niemand dieser Aufforderung nachzukommen. Kein Wunder, denn kaum eine andere Hauptstadt wirkt am hellichten Tage so verlassen wie Khartum.

Khartums breite Straßen im gleichnamigen Stadtteil, einst prächtige Avenuen, sind wie stets völlig leer, nur aufgelöst in kratergroße Schlaglöcher, die schon seit Jahren der privaten Müllentsorgung dienen. Allein auf der betonierten Hauptstraße entlang des Nils flitzt mal ein klappriger Bus, mal ein Kleintransporter vorbei, die Ladeflächen immer voll von Mitfahrern.

Irgendwie passe auch ich noch auf den Radkasten eines uralten Toyotas, obwohl die anderen Anhalter, allesamt Männer, meinen Aufstieg lieber verhindert hätten. „Igitt“, schienen ihre Blicke unter den großen Turbanen auszudrücken, „eine Frau und dann noch eine Weiße!“ „American?“ fragt mich mein Nachbar, und als ich verneine, scheinen sich alle zu entkrampfen; einer nickt mir sogar zu.

Hinter der Blue Nile Bridge endet die Fahrt, und bevor ich für den „lift“ danken kann, ist die Männerschar schon mit wehenden Dschallabijas (langen Baumwollgewändern) in der Moschee verschwunden. Noch ein guter Kilometer bis zur Bankenstraße in der Innenstadt liegt vor mir, doch heute ist es noch schwerer, vorwärtszukommen, als sonst. Kann es denn noch heißer sein als gestern, wo im Baumschatten des Sunt Forest am Ufer des Weißen Nils satte 40 Grad Celsius waren? Kann die Luft überhaupt noch staubiger sein? Das Kopftuch klebt am Schädel, die Jeans und das langärmelige Hemd jucken überall, und in den Schuhen quietscht es bei jedem Schritt. Bevor ich mich zu dieser Tracht entschlossen hatte, war ich Spießruten gelaufen: Mitten in der Stadt hatten mir Männer in die hellen Haare gegriffen oder an den Hintern gefaßt; dabei war ich auch an jenem Tag nicht ärmellos oder gar im Minirock umhergelaufen. Doch die Sitten im Sudan sind neuerdings beinahe so streng wie im Iran oder in Algerien.

Das ist so seit 1989, als das Militär putschte, und die Nationale Islamische Front (NIF) mit ihrem Vorsitzenden Hassan al-Turabi die Macht im Staat ergriff. Die NIF wurde auch bezichtigt, den fehlgeschlagenen Attentatsversuch am ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak initiiert zu haben. Heutzutage versteht sich der Sudan, südlich von Ägypten gelegen und flächenmäßig das größte afrikanische Land, als der „erste islamische Gottesstaat Afrikas“. Dieser soll nach Turabis Willen um jeden Preis gesichert werden. (Das ist auch das Credo der Marionettenregierung General al-Baschirs.) Dafür sorgen der allgewaltige Geheimdienst, ein unübersehbares Heer von Spitzeln und die Knute der Scharia (des islamischen Rechts), die nach Turabis Gusto gnadenloser angewandt wird, als es der Koran je vorsah.

Turabi ist ein kleiner, schmächtiger Mann mit stechenden Augen und einer Stimme, die er leise, aber ätzend, und angsteinflößend moduliert. Um westliches, das heißt unheiliges Gedankengut von seinen muslimischen Schutzbefohlenen fernzuhalten – so „definiert“ Turabi die strangulierende Brutalität seines Regimes –, gibt es keine internationale Schule mehr im Sudan. Es darf nicht mehr englisch gesprochen werden, Mädchen ist der Schulbesuch wieder untersagt, alle ehemaligen Pubs und Restaurants mit westlichen Speisekarten sind geschlossen, ebenso Badehäuser, Kinos und Theater. Frauen dürfen sich in der Öffentlichkeit nur in der Gruppe oder mit einem männlichen Familienmitglied zeigen; ein Auto selbst zu fahren ist ihnen verboten, und in öffentlichen Bussen müssen sie, von Männern getrennt, auf den hinteren Bänken sitzen. Öffentliche Versammlungen sind verboten. Finden sich kleinere Gruppen zufällig zusammen, ist garantiert auch ein Spitzel darunter.

Wir sitzen im Eisenwarenladen von Hamid und trinken Tee. „Weißt du“, hebt Hamid an und wendet sich demonstrativ meinem Mann zu. Mich übersieht er geflissentlich, obwohl er mir immerhin ein Gläschen des stark gesüßten Tees angeboten hatte. „Weißt du, die Engländer mögen uns wohl viel Unnützes gelehrt haben, auf das wir alle auch gerne verzichten, doch hat das Leben unter ihrer Regierung viel mehr Spaß gemacht, und funktioniert hat zu deren Zeit auch alles.“

Zielgenau spuckt Hamid einen Strahl des gelben Tabaksafts in die Messingschale neben der blechernen Eingangstür. Mit wachsendem Enthusiasmus erzählt er von den Jahren, als der Sudan von den Briten kolonisiert war, also vom Ende des letzten bis Mitte dieses Jahrhunderts. Damals bauten die Briten in Bahri (heute auch Nord- Khartum genannt) eine beeindruckende Industrie auf und öffneten das Land dadurch dem profitorientierten Westen. Sie gründeten öffentliche Schulen, garantierten kostenlose Krankenversorgung und Religionsfreiheit und installierten eine Infrastruktur modernsten europäischen Standards.

Daß die Frauen von den britischen Besatzern auch Rechte zugesprochen bekamen, daß Mädchen außerdem die Schule besuchen mußten, das war jedem eingefleischten Muslim suspekt. Doch war der Alltag alles in allem so viel lockerer gewesen, daß man(n) das ruhig hinnehmen konnte – darin sind sich Hamid und seine Freunde noch heute einig.

Mit einer wegwerfenden Geste weist Hamid auf die leeren Regale in seinem Geschäft. Auf die Saftpresse, den Tauchsieder, das Klistier, auf ein Sammelsurium von Glühbirnen und die wenigen Schrauben und Nägel, auf die vergammelte Schreibmaschine. Alles Marke Uralt, alles total verbraucht. Hilflos zuckt er mit den Schultern: „Es gibt nichts mehr zu verkaufen im Sudan, weil niemand Geld hat, Ware zu kaufen, im großen wie im kleinen. Die Firmen, die die Briten gegründet haben, stellen nichts mehr her, sind längst bankrott; die Wasserleitungen sind schon lange trocken, und Strom haben wir auch nur rationiert, wenn überhaupt...“ – „Nicht einmal Kerosin für unsere Öfchen gibt's regelmäßig“, fällt ihm sein Freund und Geschäftsnachbar ins Wort, „dabei liegen gerade wieder Tanker im Hafen von Port Sudan mit Lieferungen von Öl für das Land. Doch die Regierung hat natürlich kein Geld, das Öl zu bezahlen! Logisch“ – der alte Mann haut mit der Faust auf Hamids Kontortisch, „weil dieser verdammte Krieg im Süden täglich eine Million Dollar kostet, eine Million!“ – „Und von den früheren Entwicklungshilfeländern kommt auch kein Geld mehr rein“, ergänzt Hamid, „ich habe gehört, die deutschen Organisationen wollen jetzt auch den Sudan verlassen.“

Ich gehe an hohen, graubraunen Sandsteinmauern vorbei, die einstöckige und verwinkelte Wohnhäuser von ebener Erde her verdecken. Das Klappern von Kochgeschirren, Kindergeschrei und Frauengeschwätz dringt bis zur Straße vor. Bisher hatte ich die Frauen im Sudan immer nur von weitem gesehen. Durch eine Tür in der Mauer dringe ich zu einem Wohnhaus vor. Ich klopfe an, eine Frau öffnet und bittet mich herein. Sie schnippelt eifrig eine Paprikaschote in den großen Kessel zwischen ihren Knien. Drei Stunden später bin ich mit der ganzen Familie unterwegs nach Omdurman, der alten Stadt Khartums, zum Tanz der Derwische. „Ein Wunder, daß Turabi die Derwische noch jeden Freitag tanzen läßt“, sagt die Frau, die Methala heißt. „Eigentlich sollte es ihm doch gar nicht passen, daß alle jeden Freitagnachmittag dort hinauffahren.“

Ich war verblüfft, wie offen die Frau mit mir sprach, überrascht, daß sie mich nicht hinaussetzte, sondern mich statt dessen gleich zum Essen einlud – ich mußte nur beim Gemüseputzen helfen. Hätte sie nicht erst ihren Mann um Erlaubnis fragen müssen, bevor sie mich hereinließ? Sie fegt meine Frage mit einer lässigen Handbewegung weg: „Mein Mann ist nicht hier, er arbeitet in der Stadt, und im Haus bin sowieso ich der Boß.“

Weil ich so ungläubig dreinblicke, muß sie noch schallender lachen. Eigentlich sei ja die Mutter ihres Mannes die Herrin, korrigiert sie sich, doch verstünde sie sich gut mit ihr, und die alte Dame habe auch nichts an ihr auszusetzen...

Außer den beiden Frauen ist niemand im Haus. Die fünf Söhne seien in der Schule, und Mädchen habe sie, Allah sei Dank, nicht in die Welt gesetzt. „Schau dir doch unser Leben an: Von all den Freiheiten, die uns sogar ein Studium und einen eigenen Beruf zugestanden hätten, ist nur die englische Sprache geblieben. Die dürfen wir aber auch nur zu Hause sprechen, wenn der Mann gut zu uns ist.“

Als am Abend „habub“, der Sandsturm losbricht, sitze ich im Autostau, der sich von Omdurman nach Bahri und Khartum zurückschlängelt. Durch schwefelgelbe, sich zusammenballende Schwaden hatte er sich angekündigt und die Drei-Städte-Stadt am Zusammenfluß des Weißen und Blauen Nils in ein Inferno von sirrendem, brausendem Wüstensand verwandelt, der durch jeden Spalt hindurchfegte, Augen rötete, die unbedeckte Haut sofort austrocknete und jede Orientierung verdeckte.

Irgendwie ist das nicht so wichtig, dachte ich. Wichtig ist, daß ich endlich die Menschen von Khartum gesehen hatte. Am Nachmittag auf dem Friedhof vor der „Hamid an-Nil“-Moschee, als die Derwische sich in Trance tanzten, um Allah nahezukommen, waren mir nicht nur Methala und ihre Familie nähergekommen, sondern auch die vielen hundert anderen Khartumer, die in der Darbietung der Derwische auf dem Hügel Omdurmans ihrer einzigen Abwechslung vom Alltag frönten.

Bis zum Sonnenuntergang und dem gemeinsamen Gebet waren sie unter sich gewesen, hatten viel geschwatzt, gelacht und gebetet. Und wenn heute niemand mehr sicher sein kann, daß auch die Spitzel beim Derwischtanz einmal nur Menschen sind, so hatten es an diesem Nachmittag doch alle gehofft.