■ Der nächste Präsident in Rußland heißt Lebed und nicht Tschernomyrdin. Eine Analyse des Machtzentrums im Kreml
: Lauter Halbdemokraten

Das Überraschende an der russischen Präsidentenwahl war am Schluß nicht mehr der Wahlsieg Jelzins, sondern das gute Abschneiden des Generalleutnants a.D. Alexander Lebed. Im Januar lag Jelzin noch so weit in der Wählergunst zurück, daß man ihm eigentlich abraten mußte, erneut zu kandidieren. Durch das Aufgreifen brisanter Themen, die wochenlange mörderische Wahlkampftour durch die Provinzen und die Polarisierung der russischen Wählerschaft konnte Jelzin sein Potential ständig vergrößern. Zum Schluß holte er den Saubermann Alexander Lebed, dessen politische Position sich in die Begriffe „Law and order“ zusammenfassen läßt, in sein Boot und übernahm dessen Programmpunkte.

Lebed, der 1992 als Kommandeur der 14. Armee in Moldowa sehr schnell den dort tobenden Bürgerkrieg beendete, konnte seiner Wählerschaft glaubhaft machen, daß er nicht nur redet, sondern entschlossen handelt. Jelzin berief ihn am 18. Juni zum Sekretär des Sicherheitsrats und zu seinem Sicherheitsberater. Im Sicherheitsrat, den Jelzin 1992 nach amerikanischem Vorbild gründete, sind außer dem Präsidenten als Vorsitzendem und dem Sekretär der Regierungschef, einer seiner Stellvertreter, die Minister für Verteidigung, Äußeres, Inneres, Justiz, Finanzen, Ausnahmesituationen und Atomenergiewirtschaft sowie die Chefs des Inlandsgeheimdienstes, der Auslandsspionage und der Grenztruppen vertreten.

Die Beschlüsse des Sicherheitsrats, der monatlich tagt, erlangen Rechtskraft, wenn der Präsident sie in Dekrete faßt, welche die Ministerien und Behörden innerhalb von zwei Tagen in Verordnungen umzusetzen haben. Lebed als neuer Sicherheitssekretär hat die Ausführung der Dekrete des Präsidenten, die Sicherheitsratsbeschlüsse zur Grundlage haben, zu kontrollieren und die Tätigkeit der Exekutivorgane bei deren Umsetzung zu koordinieren.

Wenn man bedenkt, daß der Tätigkeit des Sicherheitsrats ein erweiterter Sicherheitsbegriff zugrunde liegt, der außer der Verteidigungs- auch die staatliche, wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Sicherheit sowie den Gesundheitsschutz, die Stabilität der Rechtsordnung und die Prognose sowie Abwendung von Ausnahmesituationen einschließt, dann kann es eigentlich kaum noch eine Frage geben, die nicht in die Zuständigkeit des Sicherheitsrats fällt, vor allem wenn ein ehrgeiziger Sekretär dessen Tätigkeit steuert. Nun ist Lebed – nach seinen eigenen Worten – nie mit dem zufrieden, was er gerade ist. Kein Wunder also, wenn er aus dem Sicherheitsrat ein funktionierendes Arbeitsorgan machen will.

In Zukunft soll der Sicherheitsrat Einfluß auf die personelle Zusammensetzung, den Strukturaufbau, die Funktion und die Finanzierung jener Organe nehmen, deren Leiter dem Sicherheitsrat angehören. Sämtliche Ernennungen auf Führungsebene sowie alle Veränderungen in diesen Organen sollen mit ihm vorher angesprochen werden. Jelzin billigte am 8. Juli ein Dokument, in dem Lebed diese Kompetenzerweiterungen schriftlich fixierte, und forderte den Sicherheitsratssekretär auf, es ihm erneut vorzulegen, wenn es unterschriftsreif ist.

Für das Amt des Premiers wird Jelzin der Staatsduma erneut Wiktor Tschernomyrdin vorschlagen. Tschernomyrdin ist zwar Chef der Regierungsmannschaft, doch seine Kompetenz beschränkt sich mehr oder weniger auf den Bereich der Wirtschaft. So hatte Jelzin wenige Tage vor der konstituierenden Sitzung der Staatsduma Anfang Januar 1994 die vier „Machtministerien“ – so werden sie in Rußland genannt – Verteidigung, Äußeres, Inneres und Inlandsgeheimdienst aus der Regierungsverantwortung herausgelöst und sich selbst unterstellt. Der Premier ist formal die Nummer zwei im russischen Staat, er vertritt den Präsidenten bei dessen Verhinderung. Doch inzwischen dürfte Lebed der tatsächliche zweite Mann im Kreml sein, vor allem wenn er von Jelzin die gewünschten Kompetenzen endgültig übertragen bekommt.

Lebed möchte noch vor dem Jahr 2000 Präsident werden, was angesichts der angeschlagenen Gesundheit Jelzins nicht ausgeschlossen sein dürfte. Wenn Lebed bei der nächsten Wahl für das Amt des Präsidenten kandidiert, dürften seine Aussichten zu gewinnen nicht schlecht sein. Er brauchte nicht gegen Jelzin, der nicht mehr wiedergewählt werden kann, oder Sjuganow anzutreten, dessen KPRF die Wahlniederlage ihres Vorsitzenden nicht überlebt und sich zwischenzeitlich selbst in ihre Bestandteile Konservative/Reaktionäre, Sozialdemokraten und Nationalisten zerlegt haben dürfte. Selbst wenn Tschernomyrdin, der jetzt Jelzins Wahlkampf organisierte, für das Amt des Präsidenten kandidieren sollte, was unwahrscheinlich ist, wäre er für Lebed kein gefährlicher Konkurrent, denn der Dollarmillionär – das sagt man ihm in Moskau nach – Tschernomyrdin ist bei der Bevölkerung nicht sehr beliebt.

Es wäre also klug, sich auf die Person Lebed einzustellen. Wenn er sich als einen Halbdemokraten bezeichnet, ist er wenigstens ehrlich. Die meisten, die sich in Moskau als Demokraten ausgeben, dürften ebenfalls nur Halbdemokraten sein. Und wenn er angesichts eines schwachen und fragmentierten Parteiensystems – bei der letzten Staatsdumawahl am 17. Dezember 1995 bewarben sich 43 Parteien und Wählervereinigungen um Mandate – gegen eine parlamentarische Demokratie ist, dann heißt das nicht, daß er gegen die bestehende präsidiale Demokratie ist mit ihrer starken Präsidentenexekutive.

Wenn es Lebed bis zur nächsten Präsidentenwahl auch nur ansatzweise gelingt, in Rußland wieder Recht und Ordnung herzustellen, auch und vor allem in der Wirtschaft, sowie Korruption und Mafia zu bekämpfen, dann werden alle davon profitieren: die nicht- mafiösen Unternehmer, die Bevölkerung und die ausländischen Investoren. Um Recht und Ordnung wiederherzustellen, sind vielleicht die Fähigkeiten eines strategisch denkenden und energisch handelnden ehemaligen Generals eher geeignet als die Qualitäten eines einstigen Wirtschaftsmanagers oder eines früheren KPdSU- Funktionärs. Eberhard Schneider