Bürgerwehr als Bürgerschreck

Nachts kontrollieren sie alle, die irgendwie verdächtig aussehen: Polizei-Ultras und rechte Schläger wollen Norditaliens Drogendealer vertreiben  ■ Aus Turin Werner Raith

Wir sind doch keine Hottentotten!“ Giancarlo hebt indigniert die Arme, der Polizist greift ihm kundig in die Taschen, zwischen die Beine, in den Nacken. „Sauber“, sagt er. Giancarlo läßt die Arme sinken: „Und du willst ein Kollege sein?“ knurrt er den Mann mit der Uniform an. „Si, signor“, sagt der unbeeindruckt und schreibt sich die Nummer von Giancarlos Personalausweis auf. „Bin ich. Aber bist du auch einer?“

Giancarlo schluckt die Provokation, fixiert seinen Kollegen, ballt die Fäuste, aber nur für einen Augenblick: Er weiß, wenn er, der außerdienstlich von Mailand angereiste Stadtpolizist, jetzt eine falsche Bewegung macht, kann ihm das nicht nur mächtigen Ärger mit der Justiz einbringen, sondern auch mit den „Comitati di inquilini“ hier in Turin: Die piemontesische Bürgerwehr, genannt „Ronde“, angetreten „zur Selbstverteidigung gegen das überhandnehmende Dealerunwesen, Prostitution und Diebstahl“, hat strikte Gewaltlosigkeit verordnet.

Tags zuvor hatte es in oberitalienischen Städten mehrere böse Zwischenfälle gegeben – und die meisten davon hatten absolut nichts mit Drogenhändlern oder Klaumichs zu tun. In Mailand hatte ein „Einwohnerkomitee“ einen siebzehnjährigen Mopedfahrer verdroschen, weil der angeblich zuviel Lärm gemacht hatte – obwohl er nach der erste „Ermahnung“ abgestiegen war und seinen Scooter geschoben hatte. Und just hier in Turin, wo Giancarlo nun „zur Koordinierung unserer Bewegungen“ aufgetaucht ist, hat es am Wochenende gleich mehrere Schlägereien mit Menschen gegeben, die nächtens heimkehrten und sich nicht schnell genug ausweisen konnten.

Giancarlo gehört zu den Initiatoren von „Bürger gemeinsam mit Polizisten“ der rechtslastigen Gewerkschaft SAP und rühmt sich, „mindestens einem Dutzend dieser Schweine die Fresse poliert“ zu haben; auf die Frage, ob er denn dabei auch nur einen einzigen der mutmaßlichen Ärgernisbereiter erwischt habe, hebt er die Schultern: „Ist doch egal: Auch wenn ich den Falschen verhaue, kriegen diejenigen Angst, auf die ich's abgesehen habe, und verschwinden.“ Bertoldo, Chef einer „Wachgruppe“ des Turiner Stadtviertels San Salvario, schüttelt den Kopf. „Du hättest zu Hause bleiben sollen, in Mailand“, sagt er: „Hier wollen wir das anders machen.“ Bertoldo betont, daß er weder Rassist sei noch Faschist, daß er nicht einmal der Rechten nahestehe. „Aber irgendwas muß man doch tun“, sagt er, „oder nicht?“

Der Turiner Polizist, der gerade wieder in seinen Wagen einsteigen will, richtet sich noch einmal auf: „Ja. Überlaßt uns die Arbeit der Polizei, und tut ihr eure Pflicht als Bürger!“ Da wird freilich auch Bertoldo giftig. „Als ob ihr das in den Griff kriegen würdet! Die Einbrüche und Taschendiebstähle haben hier um 150 Prozent zugenommen. Da müssen wir was tun.“

Der Polizist gehört offenbar zu den diskussionsfreudigeren seines Gewerbes; er schüttelt erneut den Kopf. „Wenn ihr schon was tun wollt“, sagt er und tritt nahe an Bertoldo heran, „dann zahlt endlich eure Steuern, wie sich's gehört, dann können wir endlich genug Leute einstellen, um euch entsprechend zu schützen.“

Er hat den Nerv getroffen. Während die Gruppe ihre „Patrouille“ fortsetzt, geht die Rede fast ausschließlich um das, was der Polizist da gesagt hat – Pflichten. Bertoldo, Massimo, Massimiliano und Mose, die hier mit zwei Polizisten außer Dienst die Nacht mit Aufpassen verbringen, sind kleine Geschäftsleute aus dem Viertel, und just diese Kategorie, soweit ist amtsbekannt, gehört zu den eifrigsten Steuerhinterziehern der Nation.

Entschuldigungen dafür gibt es natürlich zuhauf, alle gut einsehbar: „Wenn ich meine Steuern richtig bezahlen würde, könnte ich zumachen“, sagt Massimiliano, 45, Eigner einer Boutique, und Mose, der einen Andenkenladen beim Bahnhof führt, beruft gar den Allerhöchsten: „Der HERR soll mich strafen, wenn ich dem Kaiser verweigere, was des Kaisers ist – doch auch der Kaiser hat seine Pflichten uns gegenüber.“

Was da Ei ist und was Henne, läßt sich nicht herausfinden: Sind die Behörden so schlecht, weil sie mangels leerer Kassen nicht hinreichend ausgestattet sind, oder sind die Kassen leer, weil die Bürger sich nicht richtig geschützt fühlen und daher die Steuer verweigern? Bertoldo meint, das Problem liege sowieso an anderer Stelle: „Wir haben im Viertel hier 15.000 Einwohner, davon sind nun schon 3.000 Immigranten von außerhalb der EU, die meisten machen den kleinen Geschäftsleuten durch illegalen Handel mit nachgemachten Waren Konkurrenz – das kann doch nicht gutgehen, Multikulti in allen Ehren.“

Er muß seinen Diskurs unterbrechen – an der Piazza del Mercato ist endlich „was zu tun“: Drei Gestalten neben einer Laterne, die offenbar etwas austauschen. Vier Handys der „Ronde“ piepsen und verständigen andere Gruppen im Viertel über den Standort, die Polizei wird, als letzte, auch noch informiert – dann beginnt die Hatz. Nach gut fünfhundert Metern sind alle drei im festen Griff – doch bei keinem der drei, einer Frau und zwei Männern, findet sich Stoff oder Geklautes, auch nachdem die Bürgerschützer mit ihren starken Stablampen die Straße nach möglicherweise weggeworfenen Drogen abgesucht haben. Lediglich eine Packung Präservative bringt einer der Wachleute mit – das Mädchen grinst breit: „Soll man sich etwa nicht vor Aids schützen?“

Also doch ein Erfolg, eine der puttane, der Nutten, deren man sich entledigen möchte? Die eilends herangebrausten Polizisten schütteln den Kopf: „Nicht mal das. Das ist Jacky, die Tochter des ,Mastino‘.“ Ehrfürchtiges Staunen: Der Mann, den sie nach den giftigen Kampfhunden nennen, ist ein angesehener Anwalt des „Corso Marconi“, wie die nur wenige hundert Meter entfernte Zentrale des Fiat-Konzerns genannt wird: „Die ist ein bißchen nymphoman“, sagt der Polzist, „wir haben sie schon zweimal im Valentinopark beim Sex mit drei Männern erwischt, aber mehr als Erregung öffentlichen Ärgernisses war nicht drin.“ Lange Gesichter.

Die Wächtergruppe zieht weiter; Giancarlo versucht erneut die Führung an sich zu reißen, aber die Turiner lassen nun gerade an ihm die Wut über ihren Mißerfolg ab: „Bleib doch in Mailand“, rät Massimo, der als Pizzabäcker Erfahrung mit dem Hinauskomplimentieren ungeliebter Personen hat, „da kannst du mit deinem Bossi oder deinem Berlusconi Neger jagen, aber hier wollen wir wirklich etwas in Ordnung bringen, nicht in Unordnung.“

Der Hinweis auf die Mailänder Lokalmatadoren sitzt – vor zwei Tagen haben die in der ganzen Lombardei heftige Niederlagen bei Teilkommunalwahlen erlitten: Für Oberitalien fühlen sich jetzt Piemontesen und Venezianer mehr zuständig als die bisher führenden Mailänder.

Das Turiner Schloß mit seinem Park rundherum kommt in Sicht, vom Corso Vittorio Emanuele II sieht man hinunter in den mattglitzernden Po: Am Ufer sind schwach ein paar Personen zu erkennen, die plötzlich wegrennen, dahinter taucht eine Gruppe von acht oder zehn Häschern auf, doch die Fliehenden sind schneller. Bertoldo winkt ab: „Wahrscheinlich sowieso nur Liebespärchen. Ich denke, die Dealer sind auf Tauchstation gegangen. Wir haben einfach zuviel Lärm gemacht.“

Da mag er recht haben: Seit zwei Wochen hatte eine „Protestspirale“ begonnen, die jedem klarmachen konnte, daß da bald Gewalt eingesetzt würde. Am 25. Mai hatten italienische Händler auf der Messe von Senigallia in Mailand aus Protest gegen illegale Kollegen den Verkauf ihrer Waren eingestellt und eine spontane Demo veranstaltet; am 27. Mai protestierten im Stadtteil Brera die Geschäftsleute gegen die zunehmenden Einbrüche und Diebstähle.

Am 31. Mai schwappte der Protest dann hierher nach Turin, da ging es zunächst gegen die Zunahme der Prostitution. Dann gab es in Mailand den Aufruf von Giancarlo und Kollegen, allesamt Polizisten und Mitglieder der Gewerkschaft SAP: „Bürger und Polizisten in Zivil müssen eigene Wehren bilden, um unsere Straßen und Häuser sicherer zu machen.“ Dagegen haben die Polizeichefs aller betroffenen Städte ebenso protestiert wie der neue Innenminister Giorgio Napolitano.

Doch der Bürgerunmut ließ sich auch dann nicht mehr dämpfen, als die Statistiker vorrechneten, wie stark Eigentumskriminalität und Prostitution in den vergangenen Monaten zurückgegangen sind – bevor die „Ronde“ eingesetzt wurden. Erst als der Polizeipräsident von Mailand, Marcello Carnimeo, bekanntgab, wie wenige Männer sich nach dem Aufruf der SAP wirklich gemeldet hatten – „gerade mal 20, wir brauchten 1.200 Polizisten mehr“ –, wurden die Haudraufs etwas leiser.

„Die Leute sind eben feige“, versucht es Giancarlo noch mal, „wir sollen die Köpfe hinhalten, und die...“ Da stellt sich ihm Mose entschieden in den Weg: „Niemand verlangt, daß wir den Kopf hinhalten, und hier verlangt es speziell von dir schon gar keiner. Wir wollen Ruhe und Sicherheit, das stimmt. Aber wir wollen nicht die eine Unruhe durch eine andere ersetzen. Wenn ihr weiter so unüberlegt losdrescht, provoziert ihr doch nur Reaktionen anderer Bürger, und stirbt ein einziger von denen, die ihr verhaut, traut sich auch kein Polizist mehr, echte Diebe festzunehmen.“ Giancarlo hebt die Schultern – aussichtslos, mit diesen überkorrekten Turinern weiterzumachen: „Hottentotten“, murmelt er, offenbar sein Lieblingsschimpfwort, „Hottentotten!“ Dann steigt er in sein Auto und zischt ab.

Massimo sieht ihm lange nach. „Er wird's nicht verstehen. Wir wollen das Image unseres Viertels wieder heben, nicht durch Gewalttaten auffallen.“ Denn, so setzt Bertoldo in schöner Offenheit dazu, „die Nutten und auch die Dealer sind uns persönlich Wurscht, aber nicht der Eindruck, den sie auf Fremde machen. Die Quadratmeterpreise der Immobilien hier im Viertel sind um 20 Prozent gefallen – das treibt uns auf die Straße. Aber wenn jetzt aggressive Bürgerwehrleute mit Schlagstöcken herumfuchteln, bekommen die möglichen Käufer genauso Angst und bleiben weg.“

Da hat er recht: Eine erste Umfrage unter Passanten hat ergeben, daß ziemlich viele Menschen hier glauben, sich eher persönlich gegen Kriminelle schützen zu können als gegen wildgewordene Sheriffs, die rudelweise über einsame Spaziergänger herfallen.