Das ist Demokratie, langweilig wird sie nie

■ Parademäßig steht es gut um den Standort Deutschland, Berlin hat „Signale gesetzt“

Am Anfang war die Zahl. Und am Ende auch. Wenn heute die Aufräumungsarbeiten im Tiergarten sich ihrem Abschluß nähern, werden sich vor allem die Veranstalter freuen: mehr als eine halbe Million bei der Love Parade, voraussichtlicher Umsatz 110 Millionen. Das heißt: Plansoll erfüllt für eine Spaßbewegung, die „als Avantgarde keinen Sinn“ macht, wie Jürgen Laarmann, Techno- Unternehmer und Herausgeber des Magazins Frontpage, es formuliert. Sag es, wie es ist: Als Wirtschaftsbranche folgt die Love Parade dem Prinzip ungebrochenen Wachstums, ihre Kunstform ist der kapitalistische Realismus – 600.000 Raver können sich nicht irren, sie könnten höchstens zuwenig Spaß haben.

Der aber gedieh reichlich bei warmem Bier, Bratwürsten, Ravermoden, Energy-Drinks, Pärchen am Rande des Geschlechtsverkehrs und der ein oder anderen illegalen Droge. Love Parade 96 – das war klassisches Volksvergnügen, zu dem sich auch der Berliner nebst Gattin und Hund ohne größere Berührungsängste hinzugesellte, sofern nicht ohnehin schon auf den Techno gekommen. Am Rande gewissermaßen Zille-Milljöh und erhöhter Bolle-Faktor, in der Nähe der mit großem Bumbum vorbeischleichenden Wagen die an Jahren jüngere zugereiste Provinz, die jeden Wagen frenetisch bejubelte.

Love Parade 96 – irgendwie eine urdemokratische Veranstaltung. Man konnte im Grunde nichts falsch machen, wenn man einfach mitlief und dann und wann Faustzeichen gab, denn auch modemäßig geht der Trend stark ins Volkstümliche. Fraktale Muster und Neuköllner Chic sind längst kein Widerspruch mehr, alles vereint sich mit allem in freudiger Buntheit, auch Samtiges ist wieder im Kommen. Einsam wirkt nur der Träger teureren Techno- Zwirns, denn so ein in die Breite gegangenes Party-Volk scheißt natürlich auf die feinen Unterschiede. Es möchte im Grunde auch nicht die „politische“ Ansprache von Gründervater DJ Motte hören, die die Parade beschloß; es möchte einfach nur sich selbst darstellen. Wir sind das Volk, wer ist Volker?

Am schönsten war es nachher, als der Umzug zu Ende war, rund um die sogenannte Siegessäule, denn, hey, das kesselte gewaltig. Hunderttausende im Techno-Takt, fäustereckend, dazu saubere Choreographie durch die zuständigen Fachkräfte, mit aquamarinblau erstrahlender Goldelse und vielfingrigen Stroboskoparmen, die in den Himmel über Berlin griffen. Von oben sah das sicher gut aus – und auf MTV, wo wir uns morgen ansehen werden, was wir heute erlebt haben. Life is live. Auch in L.A. wird man wissen, daß Berlin eine great time hatte.

Parademäßig steht es also gut um den Standort Deutschland, Berlin hat „Signale gesetzt“, gerade was die friedliche Nutzung der Rave-Energie anbelangt. Wenn sich die Besucherzahlen weiterhin jährlich verdoppeln, wird im Jahre 2010 die ganze Welt zur Love Parade anreisen. Aber bis dahin ist DJ Westbam ohnehin Bundeskanzler. Darauf freuen wir uns, denn: Das ist Demokratie, langweilig wird sie nie. Thomas Groß, Berlin