■ Rußland: Jelzin macht Anatoli Tschubais zum Stabschef
: Innen Reformen, außen Krieg

Der russische Präsident Boris Jelzin ist immer für eine Überraschung gut. Schon mehren sich wieder die Stimmen, die in seinem Rückzug auf die Präsidenten- Datscha klare Anzeichen für eine ernste Erkrankung zu sehen glauben, da ernennt der russiche Staatschef noch flugs den ausgewiesenen Reformer Anatoli Tschubais zu seinem Stabschef. Mit diesem geschickten Schachzug gelingt Boris Jelzin zweierlei. Mit Anatoli Tschubais rückt ein Mann in den engsten Zirkel der Macht auf, der den unverhohlenen Ambitionen des Shooting-Stars und neuen Sicherheitsberaters Alexander Lebed wirkungsvoll Paroli bietet. Da auch Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin derzeit eifrig darum bemüht ist, sein Terrain abzustecken, könnte nun eine Machtbalance entstehen, die jeden Versuch der Beteiligten, ihren Einfluß über Gebühr auszubauen, künftig unterbindet.

Gleichzeitig erlaubt die Berufung Tschubais dem Präsidenten, sein lädiertes Image als Reformer aufzupolieren. Denn schon jetzt, knapp zwei Wochen nach den Wahlen, fühlen sich viele RussInnen, die Jelzin ihre Stimme für eine zweite Amtszeit und damit einen Vertrauensvorschuß gegeben haben, hintergangen. Und das zu Recht. Der Krieg in Tschetschenien wird mit einer Brutalität geführt, die ihresgleichen sucht. Täglich schießen russische Truppen Dörfer zusammen und feuern mittlerweile scheinbar wahllos auf alles, was sich bewegt. Erst gestern wurden bei Schüssen auf Privatautos zehn Menschen getötet. Von einer Einhaltung des Waffenstillstandes und einem Truppenabzug, der kurz vor den Wahlen noch so medienwirksam inszeniert worden war, ist nicht mehr die Rede.

Die russische Tageszeitung Nesawissimaja Gazeta kommentierte die Ernennung von Tschubais überschwenglich als geniale Entscheidung. Sie zeige die Richtung des Reformkurses für die zweite Amtszeit von Boris Jelzin an. Für soviel Optimismus ist es wohl noch zu früh. Wieviel Gestaltungsspielraum Tschubais tatsächlich haben wird, läßt sich im Augenblick noch nicht abschätzen. Und nicht zuletzt haben sich die bequemen Sessel der Mächtigen im Kreml in letzter Zeit nur allzuoft als Schleudersitze erwiesen. Barbara Oertel