Der Mittelstand rebelliert

Mehr als fünf Millionen Familien in Mexiko in der Schuldenfalle. Die Barzonisten wollen den Banken Anstand beibringen  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Wenn der „Verfolgung“ nicht schleunigst Einhalt geboten werde, sei man „zu allem bereit“, heißt es aus den Reihen der Verzweifelten. Die vielen bis über beide Ohren Verschuldeten in Mexiko haben einen Aktionsplan ausgetüftelt. Konkret: Sollte den Forderungen der Barzonisten nicht umgehend nachgekommen werden, so würden diese Woche an die hundert Bankfilialen im ganzen Land besetzt – und das, so warnen die Anführer der Bewegung, sei dann „erst der Anfang“.

Mit über einer Million eingeschriebenen Mitgliedern und seinen fast neunhundert Regionalverbänden ist „El Barzón“ – das heißt „Der Pflug“ – heute die mit Abstand mächtigste soziale Bewegung im Lande. Die Rede ist ausnahmsweise nicht von hungernden Campesinos aus den unzugänglichen Bergregionen im Südosten, sondern vom pfändungsbedrohten Mittelstand Mexikos: überschuldete Landwirte und Kleinunternehmer, die sich mit immer militanteren Mitteln gegen „Wucherwirtschaft“ und „Bankenterrorismus“ zur Wehr setzen.

Vom Bauern bis zum Kleinindustriellen, vom Busunternehmer bis zum Kreditkartenbesitzer ist alles dabei, was einst am vielbeschworenen Aufschwung einer „Modernisierung auf Pump“ teilhaben wollte und durch den jähen Abschwung der mexikanischen Wirtschaft um so bitterer enttäuscht wurde.

Nach Angaben des Verbands sind heute weit mehr als ein Drittel des gesamten Kreditvolumens, über 200 Milliarden Pesos (umgerechnet rund 40 Milliarden Mark), überfällig. Über fünf Millionen mexikanische Familien hängen mittlerweile am Schuldentropf. Noch 1992 beliefen sich die „schlechten Kredite“ auf weniger als ein Zehntel dieser Summe. Mit der Bruchlandung der Peso-Krise aber kam für viele das böse Erwachen: Während Kaufkraft und Binnenmärkte zusammenbrachen, schnellten die Zinsen in die Höhe. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise mußten Kreditkartenbesitzer beispielsweise horrende 170 Prozent Zinsen für ihre Plastikschulden berappen, die Durchschnittszinsen lagen lange Zeit bei rund 100 Prozent. Zwar sind die Leitzinsen heute wieder auf vergleichsweise „milde“ 30 bis 35 Prozent gesenkt, die Schuldenfalle aber ist für viele längst schon zugeschnappt.

Typisch für diesen Teufelskreis der Binnenverschuldung ist der Fall von Gloria González: Vor zwei Jahren unterschrieb ihr Mann stolz einen Ratenvertrag für einen eigenen Kombi, die 125.000 Pesos können über drei Jahre lang abgestottert werden. Monat für Monat kratzte die Familie die Rate zusammen. Als sie endlich 80.000 Pesos abbezahlt zu haben glaubte, wurde ihnen vom Kreditinstitut mitgeteilt, daß der zu begleichende Gesamtbetrag sich mittlerweile auf 300.000 Pesos belaufe. Das Häuschen und alle anderen Habseligkeiten wurden als Bürgschaft eingesetzt, alles umsonst: Eines unschönen Tages lag auch bei ihnen die Pfändungsorder im Briefkasten – und die Familie González wurde Mitglied bei „ El Barzón“.

Entstanden war „El Barzón“ vor dreieinhalb Jahren zunächst im einstmals prosperierenden Norden des Landes, als die drohende US- Konkurrenz den Rancheros und Landwirten das Wirtschaftsleben schon vor dem offiziellen Start der Nordamerikanischen Handelszone Nafta zunehmend schwerer machte und gleichzeitig die Agrarkredite für mexikanische Farmer immer teurer und unzugänglicher wurden. Dank Nafta und dem 12 Monate später folgenden Finanzkollaps verzeichnete „El Barzón“ dann einen starken Mitgliederanstieg säumiger Schuldner und breitete sich schließlich im ganzen Land aus.

Rund dreihundert Selbstmorde gehen nach Angaben des „Barzón“ allein 1995 auf das Konto der Gläubigerbanken, deren brachiale Methoden – die von Pfändungen und Räumungen bis zu Gefängnisstrafen reichen – mittlerweile vor internationalen Instanzen als „Menschenrechtsverletzung“ angezeigt sind.

Für Neuankömmlinge funktioniert die Organisation zunächst als eine Art gigantische Selbsthilfegruppe: „Am Anfang denken die Neuen immer, es sei ihre eigene Schuld und sind völlig fertig mit den Nerven“, so Barzón-Führer Ramirez Cuellar, „und wir bieten ihnen hier Solidarität und zeigen ihnen, daß es eine gemeinsame Lösung gibt.“

Neben langfristigen Entschuldungsprogrammen und einer „steuerlichen Amnestie“ fordern die Barzonisten, analog zum Verhandlungsmodell im Chiapaskonflikt, eine Art gesamtgesellschaftliche Dialoglösung. Es geht ihnen längst nicht mehr nur um das eigene Bankkonto: Im Zentrum ihrer Proteste steht die „skandalöse Privilegierung“ der gerade erst reprivatisierten Banken gegenüber dem brachliegenden Produktivsektor. Dabei sollte mit der Entstaatlichung der Nationalbanken alles anders, sprich: moderner werden. Dies hat seither nicht nur 33.000 Bankangestellten ihren Job gekostet, sondern sich auch für die öffentlichen Kassen als denkbar schlechtes Geschäft erwiesen: Während sie für den Verkauf der Geldinstitute 40 Milliarden Pesos kassierten, mußten sie seither mehr als das Dreifache in deren Sanierung pumpen.

Dieses Negativimage kommt der gut organisierten Schuldnerbewegung gerade recht. Beeindruckend ist inmitten der zerstrittenen oppositionellen Politlandschaft Mexikos vor allem die Bündnisfähigkeit des „Barzón“. Dieser solidarisiert sich nicht nur mit verschuldeten Großkapitalisten, auch mit der ganz anderen Seite werden Allianzen geschmiedet. So wurde vor wenigen Tagen verkündet, daß man der Öffentlichkeit nächste Woche ein „formales Bündnis“ mit der chiapanekischen Zapatistenguerilla EZLN präsentieren werde. Die Allianz sei allerdings nicht militärisch gemeint, beeilten sich Barzón-Sprecher zu versichern, sondern vor allem gegen die „katastrophale Wirtschaftspolitik“ der Regierung gerichtet.