Im Hochhaus der Salzheringe

■ Größte Enge und tiefste Blicke: Alex van Warmerdams skurril-entlarvende Komödie Abel

Fliegende Fliegen mit einer Schere entzweischneiden zu wollen ist ein Unterfangen, das beharrlich zu verfolgen eine gewisse Durchgeknalltheit zwingend erforderlich macht. Diese Voraussetzung erfüllt Abel problemlos.

Abel ist 31 Jahre alt, lebt mit seinen wohlhabenden, verspießt-debilen Eltern in einem Penthouse einer anonymen, betongrauen Großstadt, trägt einen schön häßlichen Pullunder mit Fischen drauf und hat in seinem Leben noch keinen Schritt vor die elterliche Tür gesetzt. Stattdessen widmet er sich intensiven Beobachtungsstudien, die er von seinem Zimmer mit Aussicht aus betreibt. Das Fernglas wird dem weltfremden Voyeuristen dabei zum primären Kontaktmedium mit der außerhäuslichen Wirklichkeit und ein Fernseher zum konsequenterweise größten Wunschtraum.

Abel ist der erste, bereits 1986 produzierte Film von Alex van Warmerdam (bekannt durch Noorderlingen, 1992), der auch die Hauptrolle des skurril-sympathischen Spätzünders Abel verkörpert. Das bizarre, kammerspielartige Kleinod ist nach seinem Erscheinen mit einer Vielzahl von Preisen bedacht worden – verdientermaßen. In langen, teilweise kontemplativen Einstellungen erzeugt Warmerdam eine düstere, beklemmende Atmosphäre, in der sich die zugleich absurd-komischen und bemitleidenswert-neurotischen Situationen des Abelschen Mikrokosmos abspielen.

Während Abels Mutter Dove (Olga Zuiderhoek), eine veritable phlegmatische Schreckschraube, ihren Sohn mit nicht selten erotischer Mutterliebe in seiner Verschrobenheit eher unterstützt, ist Victor (Henri Garcin), der kernig-konservative Vater, latent frustriert über seinen realitätsscheuen Sohn. „Warum kann das Leben nicht normal sein?!“, ruft er etwa verzweifelt aus.

Um seine Vorstellungen von Normalität aufrechtzuerhalten, versucht er unter anderem krampfhaft, Abel zu verkuppeln. Ein arrangiertes abendliches Kennenlern- idyll gerät zu einer der komischsten Szenen des Films. „Ich will einen spontanen Abend“, plant zuvor der Papa unbewußt paradox. Die anschließende (Nicht-)Konversation treibt groteske Blüten: „Ich finde, Sie wären eine sehr gute Kartoffel“, trägt Abel etwa seiner potentiellen Partnerin entgegen. Nach langen, quälend-komischen Gesprächspausen heißt es schließlich: „Ist es nicht Zeit für einen leckeren Salzhering?“ Das darauffolgende, eklig-schmatzende Heringverschlingen des im Fischkonsum geeinten Familienclans läßt die Auserwählte – zur Erheiterung der Zuschauer – tränenüberströmt die Flucht ergreifen. Warmerdam gelingt es, eine unaufdringliche, an Jacques Tati und Laurel- und Hardy-Filmen geschulte Situationskomik zu erzeugen, die das Absurde im „Normalen“ offenbart.

Wie Abel dann doch noch die „wirkliche“ Wirklichkeit erfährt, der Geliebte der Geliebten seines Vaters wird, einem Peepshow-Mädchen namens Sis (Annet Malherbe), welches dem Voyeur Abel eine exhibitionistische zweite Hälfte darstellt und sich mit der Mutter erbitterte, grotesk-spaßige Kämpfe um die Betreuungsvorherrschaft über das dauernd zu umsorgende, ewige Muttersöhnchen liefert – all das sollte man sich live gönnen.

Über das Ende sei deshalb nur soviel verraten: Einer dicken Fliege widerfährt das unwahrscheinliche Schicksal, mitten im Flug das Opfer einer scherenschnittigen Zweiteilung zu werden. Normal absurd.

Christian Schuldt

Ab heute im 3001