■ Vorschlag
: Strahlendes Kolonialweiß: „Dao, die Schildkrötenmutter“ im Arsenal

Die Schildkrötenmutter ist ein Wesen, das existierte, bevor die Erde entstand. Einmal traf sie sich mit den vier Winden und wurde schwanger. Dann gebar sie die ersten Menschen, ein Zwillingspaar. Diese indonesische Geschichte wird zu Beginn eines bemerkenswerten Films aus den Niederlanden erzählt. Vincent Monnikendam hat in verschiedenen Archiven 260.000 Meter Nitromaterial besichtigt, das zwischen 1913 und 1922 in Holländisch Ostindien gedreht worden war. Die fernen Besitztümer erscheinen in den Filmszenen als industrielle Goldgrube mit willigen einheimischen Arbeitern, als ein koloniales Tropenparadies oder auch als Heimat von unbegreiflich fremden Kulturen. Wenngleich solche Aufnahmen zu den wohl vielsagendsten Schätzen der europäischen Völkerkunde gehören, sind sie – schon allein wegen ihrer Feuergefährlichkeit – kaum jemals zu sehen. Monnikendam hat jedoch mehr getan, als das Material bloß aus den Tiefen der Archive zu befreien. Er montierte und vertonte 90 Minuten Filmmaterial ohne jeden erklärenden Kommentar in einer präzisen, aber unaufdringlichen Ordnung, so daß man die Freiheit hat, den Film als Entführung in eine versunkene Traumwelt zu sehen oder als die Selbstentlarvung kolonialer Politik – schließlich diente das Material ursprünglich einmal der holländischen Propaganda.

Wie mögen die Holländer wohl vor 70 Jahren ihre Landsleute auf der Leinwand gesehen haben, die da die „Eingeborenen“ mit Zollstöcken ausmaßen, impften, in den Fabriken beaufsichtigten und sich in allen Lebenslagen von ihnen bedienen ließen? Von heute aus betrachtet, scheinen diese frühen Szenen des Kolonialismus, ihrer Brutalität zum Trotz, oft seltsam „human“, weil sich Kolonisatoren und Kolonisierte noch von Angesicht zu Angesicht begegneten. Es ist eher das strahlende Weiß der Anzüge, der Haarschleifen und der Gesichter, das im Kontrast zu der dunklen, oft nackten Haut der Indonesier von der gottgleichen Macht der Holländer in ihrer Kolonie erzählt.

Monnikendams Film ähnelt einer Reise durch die Vielfalt des indonesischen Archipels: Man sieht die urbanen, javanischen Zivilisationshochburgen, die eleganten Restaurants, die Pferderennbahnen und die Ölbohrtürme, aber auch die entlegenen Missionsstationen und unzugänglichen Regenwälder. „Unterwegs“ bekommt man dabei auch einen Blick für die Hierarchien innerhalb der indonesischen Gesellschaft: Viele javanische Muslime gehörten offensichtlich zu einer Klasse, die von den Kolonialherren ganz anders behandelt wurde als die „Eingeborenen“ im Urwald. Dorothee Wenner

„Dao, die Schildkrötenmutter“, vom 19. bis 21. 7. um 21 Uhr im Kino Arsenal im Rahmen einer „Found Footage“-Filmreihe