: Freuden der Grausamkeit
Gewalt im Kino, Teil II: Hier bin ich Mladić, hier darf ich's sein – wohin sich das Gefühls- und Bildpotential der Lust am Schlachten verzogen hat ■ Von Michael Rutschky
Nachts, vor dem Einschlafen, lese ich neuerdings die Biographien des Plutarch – „ber. griech. Historiker, geb. ca. 50, gest. ca. 125 n. Chr.“ – just for fun. Von Perikles – „ber. athen. Staatsmann, geb. ca. 500, gest. 429 v. Chr.“ – hat er zu erzählen, dieser habe nach seinem Sieg über Samos die Kommandanten und Matrosen der gegnerischen Flotte auf dem Marktplatz von Milet an Pfähle binden und zehn Tage lang hungern und dursten lassen, dann befahl er, ihnen mit schweren Knütteln die Schädel einzuschlagen, die Leichen sollten unbegraben verrotten.
Früher war der General Mladić Legion, bei Plutarch finden sich zahllose Beispiele. Der siegreiche Feldherr durfte, wenn ihm der Sinn danach stand, unter seinen Gefangenen ein Blutbad anrichten. Weder innere noch äußere Instanzen behinderten ihn zwingend an persönlicher Grausamkeit, der Freude am Schlachten, wie sie für General Mladić bezeugt ist. Diese Freude rechnete wie die an Essen oder Trinken oder Sex zu den Glücksmöglichkeiten des antiken Menschen. Das Blutbad war just for fun; keineswegs sollte daraus, wie uns jüngst ein politisch engagierter Dichter weismachen wollte, ein irgendwie tiefer, eben blutvoll begründetes Sittengesetz erwachsen.
Wir, der neue Mensch, lehnen Blutbäder grundsätzlich ab; sogar Himmler, ein KZ inspizierend, wurde von Entsetzen und Ekel befallen. In der neuen Zeit entstehen Blutbäder meist als Nebenwirkung beim Verfolg hoher und höchster Zwecke. Persönliche Grausamkeit, die schiere Lust am Schlachten, gilt als Atavismus, wenn nicht als Psychopathologie.
Das war der Zivilisationsprozeß, der, wie der alte Professor Freud lehrte, auf dem Umbau der ursprünglichen humanen Aggressivität beruht. Das Schuldgefühl beflügelt uns zu den schönsten Leistungen (und manchmal zu ideologisch-moralisch bestens begründeten Blutbädern, mit denen verglichen die antiken sich harmlos ausnehmen). Freilich bringt der Zivilisationsprozeß das Gefühls-, Handlungs- und Bildpotential der Grausamkeit nicht einfach zum Verschwinden, auch diese Potentiale werden ausdifferenziert und umgruppiert, damit wir manche fernab vom Alltagshandeln, in abgegrenzten Simulationsräumen erleben können, ohne den Zivilisationsbetrieb zu stören.
Beispielsweise im Kino. Hier darfst du dich daran erfreuen, wie Robert De Niro als junger Vito Corleone dem pompösen Lokalgangster im weißen Zweireiher den Revolver in den Mund schiebt, um ihm das Gehirn auszublasen, wie Joe Pesci am Ende von „Casino“ mit Baseballschlägern zu Matsch zerschlagen und als immer noch lebender Fleischklumpen begraben wird; du darfst lachen, als der herbeigerufene Spezialist die von Anne Parillaud als „Nikita“ professionell erledigten Gegner in der Badewanne mit Salzsäure übergießt, um sie aufzulösen und runterzuspülen, aber sie zucken, „verdammt! die leben ja noch.“ Du darfst dich an noch viel weitergehenden Scheußlichkeiten erfreuen, die du im Alltag nicht würdest anschauen können, bei denen mitzutun dir vollkommen unmöglich wäre. Als deiner Katze neulich wegen Krebs die Pfote amputiert werden mußte und du zum ersten Mal den armen, wunden Stumpf in Augenschein nehmen mußtest, wurdest du beinahe ohnmächtig. Wärst du bei der Operation selber dabeigewesen, es hätte dich vermutlich gleich umgehauen.
Im Kino dürfen wir uns ohne Schuldgefühle an Grausamkeiten erfreuen – dürfen wir das wirklich?
Daß die Debatte darüber, ob wir es dürfen – wir alle? oder erst ab 16? –, in welchem Ausmaß und in welcher Drastik, so leicht zu entfachen ist, spricht nicht dagegen. Diese Debatte bietet die moralische Begleitmusik zu dem Vergnügen, die es insofern sichert, als es ein verbotenes bleiben muß. Wer möchte sich schon plötzlich als General Mladić wiedererkennen.
Weil wir die moralische Verurteilung der Grausamkeiten, an denen wir uns im Kino erfreuen, voraussetzen können, wird ein anderes Problem interessant. Es läßt sich nur schlecht durch Allgemeindebatten bearbeiten; es wäre Kasuistik nötig. Einzelfallsammlung: Wer kann im Kino welche Grausamkeiten dann doch nicht mehr genießen, sondern bekommt es wirklich mit Angst, Ekel und Schrecken zu tun. Eine solche Kasuistik ist ohne die Vorentscheidung zu betreiben, daß der Widerstrebende selbstverständlich der moralisch sensiblere, also der bessere Mensch sei. Wie gesagt, Himmler war zu empfindlich, mit eigenen Augen die Folgen seiner eigenen Befehle zu erblicken.
Kasuistik. K. muß im „Paten“ schon die Augen zudrücken und die Ohren zuhalten, wo ich die Szene noch groß anschauen darf. Als Joe Pesci in „Casino“ dem Gegner im Schraubstock durch Zudrehen den Kopf sprengt, erfolgt rechtzeitig der Schnitt (auch darf ich mich dieser Szene erinnern, wenn ich am Ende der Zerschlagung Joe Pescis mit Freuden beiwohne, als Rechtfertigung: „Er hat es doch wirklich verdient“). Mit Scheel bin ich mir uneins geblieben, weshalb er den geplatzten Fettsack, die aufgeschlitzte Hure in „Sieben“ vollkommen unerträglich fand, während ich an der Drastik die Sparsamkeit lobte, mit der sie gerade so inszeniert war, daß ich sie auch in meiner Phantasie nicht abzuarbeiten brauchte. (Im übrigen interessierte mich an dem Film das zivilisations- oder moraltheoretische Paradox, daß der Heilige, der exemplarisch die Sünden der Menschheit abstraft, der Schwerverbrecher ist.) – Aber auch meine Freude an der Grausamkeit ist begrenzt. So habe ich Freddy Krugers Taten, die andere begeistern, nie beigewohnt, und auch zu Schlingensief kriegen mich keine zehn Pferde. Was immer Helmut Höge an den Splatterfestivals zu loben hatte, ich glänzte durch Abwesenheit. Als kurzfristig die Horrorvideos es waren, die unsere Jugend verdarben, fehlte mir jede Neugier. (Die Kids sollen sich dem Horror ja in sportlicher Gesinnung als einer Art Mutprobe unterworfen haben, von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.)
Ich vermute – die moralische Verurteilung von Grausamkeit immer vorausgesetzt –, daß jeder in seinem Seeleninnenraum Grenzen vorfindet, an denen ihm auf Grausamkeiten im Kino mit Freuden zu reagieren unmöglich wird. Diese Grenzen verlaufen höchstpersönlich höchst verschieden, so wie die Vorlieben für Menschen, Speisen, Bücher, Sexualpraktiken variieren.
Noch einmal, an diesen Grenzen wird nicht endlich doch noch die Moral aufgebaut, die der Freude an der Grausamkeit im Kino ein Ende bereitet, nein, der ganze Seeleninnenraum ist moralisch gleichmäßig ausgeleuchtet. Vielmehr muß man sich die Lage so vorstellen, daß ich, reagierte ich auch auf diese Grausamkeiten im Kino noch mit Freude, in ernsthafte Schwierigkeiten mit mir selbst geriete. Es bliebe mir plötzlich doch nicht erspart, mich als General Mladić zu erkennen, und das muß ich vermeiden.
Ein Schlußwort zu Perikles. Nur eine einzige Quelle kann Plutarch für das Massaker an den samischen Seeleuten ausfindig machen, die anderen Quellen erwähnen die Schandtat nicht. Und so schließt Plutarch aus, daß Perikles sie angeordnet, daß das Massaker stattgefunden hat. Nur geschrieben, gelesen.
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