"Die Erfinder der Zukunft"

■ "Was hält Sie davon ab, Japan als Ameisenstaat zu betrachten?" Der Regisseur Wim Wenders über die strenge Disziplin seiner Lieblingsstadt im Fernen Osten, japanische Bildkultur zwischen Ozu-Filmen und Nintendo -

Wim Wenders nennt es seine größte Lust, in Städte „einzutauchen“. Und seine Lieblingsstadt in Asien heißt Tokio. Vergangene Woche besuchte Wenders zum dreißigsten Mal die 30-Millionen-Stadt, um sich gegen die japanische Zensur seiner Koproduktion mit Michelangelo Antonioni, „Par delà les nuages“, zu wehren. Die japanische Presse feierte seine Kampagne, und die Reise endete im Triumph: Noch bevor Wenders die Rückreise nach Paris antrat, wurde die Zensur zurückgezogen.

taz: Wie erklären Sie sich den plötzlichen Erfolg Ihrer Anti- Zensur-Kampagne in Japan?

Wim Wenders: Die meisten Japaner, denen ich in diesen Tagen begegnete, entschuldigten sich bei mir. Das fand ich unpassend. Aus der Kultur heraus ist durchaus ersichtlich, warum man in Japan eine Zensur erfand, die Schamhaare und Genitalien im Film hinter eingeblendeten Wölkchen versteckte. Nur ist das heute anachronistisch: Man kann bewegte Bilder nicht völlig anders zensieren als starre Bilder. Man kann also im Printmedium nicht jede Grausamkeit und exotische Sexualität durchgehen lassen, wie das heute in Japan üblich ist, und gleichzeitig im Film so prüde sein, jeden Anblick von Schamhaaren zu verbieten.

Wie kam es, daß Sie sich geeignet fühlten, die Japaner in Sachen Prüderie zu unterrichten? Das hätte ich nicht gemacht, wenn ich nicht ausdrücklich gefragt worden wäre. In Amerika, Deutschland und Frankreich gibt es Restriktionen, die das eigene Werk unangetastet lassen und sich nicht anmaßen, zwischen Kunst und Pornographie zu unterscheiden. In der Regel geht es dabei um Altersbegrenzungen. Deshalb war ich von Anfang an mit der jetzt festgelegten Limitierung ab 16 Jahren für unseren Film in Japan einverstanden.

Bedurfte es des öffentlichen Auftrumpfens eines westlichen Starregisseurs, um die japanischen Zensurbehörden zum Einlenken zu zwingen?

Der Erfolg wurde dadurch möglicher, daß ich die Kampagne nicht für mich startete, sondern als Stimme meines Kodirektors Michelangelo Antonioni, der sich aufgrund seiner Behinderung verbal nicht mehr ausdrücken kann. So ist mein Ärger auch schon übersetzt, ich spreche nicht in eigener Sache, und das verstehen die Japaner besser. Für einen eigenen Film hätte ich die Kampagne nicht gemacht.

Macht es Ihnen etwas aus, in Japan als Lehrmeister aufzutreten? Bisher galten Sie hier als Schüler des verstorbenen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu, der mit Eleganz und Simplizität Japans traditionelle Kultur auf die Leinwand brachte.

Mein eigenes Lernen und meine Arbeitsauffassung sind von Japan und von Yasujiro Ozu wirklich beeinflußt worden. Ich mag die Kultur und Filmkultur dieses Landes, vielleicht mehr als jede andere in einer vergleichbaren Situation. Daher kommt womöglich auch der Wunsch, daß es zwischen Japan und uns einen Austausch geben möge.

Sprechen Sie von persönlichen Marotten, oder können Sie Ihr Interesse auch allgemein verständlich machen?

Gerade um mein Anliegen verständlich zu machen, komme ich hierher. In der japanischen Kultur – insbesondere bei Ozu – gibt es etwas unglaublich Transparentes, das unsere beiden Kulturen transzendiert. Ich habe so ein Kino in Deutschland nie gesehen und hätte es mir immer gewünscht: Bei Ozu finden sich Vorstellungen von Familienbeziehungen und menschlicher Wärme, die wir gar nicht mehr kennen, weil unsere Gesellschaft da rausgewachsen ist. Aber dennoch gilt: Das ist auch für uns verständlich, wesentlich und wichtig. Nichts daran ist zu japanisch.

Die aktuelle Bilderwelt Japans spricht aus Computerspielen. Die Nintendo-Kultur entscheidet über Filmerfolge, wie jetzt „Alien“ in den USA. Bewundern Sie Japan auch dafür?

Nintendo ist das genaue Gegenteil zur Ozu-Kultur. Daß es dieses Gegenteil in Japan gibt, zieht mich allerdings ebenso an. Ich muß wissen, wie die neue Generation hier aussieht, mit welchen Geräuschen und Bildern sie funktioniert. Es gibt in Japan – wie sonst nur in Amerika – immer ein bißchen Zukunft zu sehen. Das betrifft nicht nur Kino, sondern Design, Architektur und soziale Umgangsformen. Gerade die visuelle Kultur reicht bis an unsere tiefsten Wurzeln – in der Werbung, beim Design der neuesten Elektronikgeräte und in den Computerspielen nimmt sie in Japan wichtige Entwicklungen vorweg. Jeder bei uns will in einem halben Jahr den mobilen Bild-Videospieler haben, der hier gerade neu herausgekommen ist. Gerade dieses Stück unserer Zukunft, das Japan sozusagen vorproduziert, wird in Deutschland nur in Form von Konsum verarbeitet. Wir versäumen also einen Dialog über die eigene Zukunft.

Was den Dialog mit Japan betrifft, ist er in Deutschland von Spott erfüllt: Peter Handke spricht vom „müdesten Volk der Welt“, Hans Magnus Enzensberger erkennt in Japan nur willfährige Diener eines mächtigen Staatsapparats und will sich von der Brüsseler Bürokratie nicht zum „Japaner“ machen lassen. Was übersehen die Spötter?

Diese Leute haben mit Japan irgendwie negative Erfahrungen gemacht. Mir ist es anders ergangen. Ich bin etwa 30mal in Japan gewesen und nutze inzwischen jede Gelegenheit, um zurückzukommen – weil ich mich hier ausgesprochen wohl fühle und jedes Vorurteil inzwischen widerlegt gefunden habe. Ich empfinde die Leute als ausgesprochen herzlich, komisch und flexibel, wo es doch immer heißt, die Japaner seien so zurückhaltend, verschlossen und starr. Dabei fasziniert mich jedes Mal aufs neue, wie toll Tokio funktioniert, wie zivilisiert das Leben in der Großstadt hier vor sich gehen kann, wie so viele Eigeninteressen sich doch immer wieder einem größeren Interesse unterordnen, ohne daß Japan deswegen ein Untergebenenland geworden wäre. Es gehört viel soziales Engagement dazu, einen solchen Bienenhaufen zum Funktionieren zu bringen – das Ergebnis ist für mich zugleich lebenswert und liebenswert.

Was aber erklärt dann das herablassende Japan-Urteil deutscher Kulturschaffender?

Unsere Erklärungen funktionieren in Japan nicht, und je besser wir das Land kennen, desto schwieriger können wir Urteile fällen. Ich habe anfangs auch alle

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möglichen Erklärungen gehabt. Gleich beim dritten Mal, als ich hier war, habe ich „Tokyo-Ga“ gedreht – doch heute glaube ich nichts mehr von dem, was ich damals so sicher über das Land zu wissen glaubte. Es ist jedesmal anders, wenn man kommt. Tokio ist in Bewegung, es passiert viel und Aufregendes. Allein der Morgen nach dem großen Taifunregen: Nachdem vier Tage lang alles unheimlich grau war, ist heute alles wahnsinnig bunt und schön.

Was hält Sie davon ab, Japan als Arbeitsstaat oder Ameisenhaufen zu betrachten?

Mein Eindruck ist, daß unter den uns fremden Erscheinungsformen der japanischen Massen immer noch eine unheimlich große Freiheit steckt. Schon das Stadtbild gefällt mir. In Deutschland gibt es Geschäftsviertel und Wohnviertel. Und dann gibt es Vergnügungsviertel, alles schön getrennt. Außerdem gibt es Viertel, wo reiche Leute wohnen und welche, wo arme Leute wohnen. Auf diese Art weiß man in jeder deutschen Stadt nach einer halben Stunde, wo wer wohnt und wie was zusammenhängt. Hier in Tokio kommt man in ein Geschäftsviertel, geht um die Ecke und steht vor einem Tempel, geht wieder um die Ecke und steht vor einem kleinen Häuschen, wo rechts ein reicher und links ein armer Nachbar wohnt. Noch einmal um die Ecke gibt es Bars und Puffs, und direkt daneben ist wieder ein großes Geschäftshaus. Für mich ist das eine schöne, sehr freie Idee von Stadt.

Freiheit erscheint den meisten westlichen Besuchern als ein Anathema zum Leben in Tokio – es heißt doch, Japaner leben in Kaninchenställen und fahren U-Bahn wie Sardinen in der Büchse?

Die Freiheit, von der ich rede, liegt darin, daß Stadtleben hier nicht so festgefügt ist, sondern immer vielschichtig bleibt. Daß Arbeit, Vergnügen, Wohnen mehr ineinandergreifen. Freiheit heißt in Tokio auch, daß in so einem Wahnsinnschaos trotzdem ein geregeltes Leben vonstatten gehen kann. In anderen Städten behindert das Chaos Arbeit und Entfaltung. In Tokio ist das nicht der Fall. Man kommt überall hin, es gibt überall Parks, und die Stadt ist überall lebenswert. Der Preis dafür ist die Disziplin, die man in einer Stadt wie Tokio mitbringen muß. Disziplin ist hier nur die Kehrseite der Freiheit, ein sozialer Wert, der den Menschen in der Großstadt erst eine bestimmte Offenheit gibt.

Woran liegt es, daß wir in Deutschland dazu neigen, den japanischen Freiheitsbegriff zu ignorieren?

Wir sind sehr von Schrift, Literatur und textlichen Vorgaben geprägt. Die Menschen hier sind wesentlich mehr von bildlichen Vorgaben geprägt. Das ist eine diametral entgegengesetzte Disposition, ein anderes Gefüge, sich in der Welt zurechtzufinden. An uns läge es, viel mehr der neuen Lebensformen, die nicht auf Literatur und Schrift ausgerichtet sind, auszuprobieren und zu erlernen.

Man muß sich auch darüber klarwerden, was es heißt, daß alle unsere Fotoapparate und Fernseher in Asien gemacht werden, daß unsere ganze Bilderwelt mehr und mehr von hier beeinflußt wird. Wir tun immer noch so, als seien wir ein Volk von Erfindern. Doch das ist nur noch Schein. Die wirklichen Erfinder der Zukunft leben hier.

Sind Sie in Ihrem eigenen Werk mit Japan bereits fertig?

Ich habe zwei Dokumentarfilme in Tokio gemacht. Die Fiktion habe ich noch nicht gedreht. Das möchte ich unbedingt noch machen: einen Spielfilm, der hier nicht ganz, aber teilweise spielt. Die Tokio-Sequenzen in „Bis ans Ende der Welt“ waren doch eher auf Reader's-Digest-Niveau. Damit war und bin ich nicht zufrieden.

Das Gespräch führte Georg Blume