Räumung ohne Plan und Perspektive

Die Wagenburg an der East Side Gallery in Berlin wurde gestern geräumt. Die BewohnerInnen sollen nach Spandau: Dort wollen sie nicht hin, und die SpandauerInnen protestieren  ■ Von Kathi Seefeld, Julia Naumann und Uwe Rada

„Seit ich nicht mehr rauche, esse ich am liebsten Kekse. Haha“, lacht ein dicker Journalist. Berlins Polizeipressestellensprecherin Christiane Krüger kichert. So lustig können Räumungen sein! Ein zehn Quadratmeter großes Cannabisfeld haben die Beamten gefunden, als sie gestern morgen zum Großeinsatz auf die berühmt-berüchtigte Wagenburg hinter der auch sehr berühmten East Side Gallery anrückten.

Sechs Strafanzeigen wurden bis zum Mittag gestellt, eine wegen Rauschgiftbesitzes, die anderen fünf, so Krüger, wegen des Verdachtes. „Die Umweltkripo, ebenfalls auf dem Gelände, beschäftigt sich mit einer illegalen Mülldeponie.“ Der Verkehrsdienst hat ein Krad gefunden, das als gestohlen gemeldet wurde, ein paar Mountainbikes unbekannter Herkunft sollen auch noch herumstehen.

150 bis 200 Beamte vor, noch einmal hundert auf dem Gelände haben alle Hände voll zu tun. 80 bis 90 BewohnerInnen werden in der Wagenburg vermutet. Seit in den Morgenstunden ein Vertreter des Bundesvermögensamtes, der Eigentümerin des Areals, den Platz betreten und den Rollheimern Hausverbot erteilt hatte – dem diese natürlich nicht umgehend Folge leisteten –, sind bereits 55 Männer und Frauen erfaßt und zur Tuberkuloseuntersuchung abtransportiert worden.

„Mein Huhn“, weint eine junge Frau, die die Tuberkuloseuntersuchung bereits hinter sich hat. „Das ist noch in seinem Stall, das kann sich alleine nichts zu fressen suchen.“ Andere WagenburglerInnen klagen, daß sie nicht einmal Gelegenheit hatten, ihre persönlichen Dinge mitzunehmen. Innerhalb von vier Wochen, so Polizeisprecherin Krüger, könnten alle Anträge beim Bundesvermögensamt auf Herausgabe ihres Eigentums einreichen. „Vier Wochen, ich habe nicht einmal einen Schlafsack mitnehmen können. Ich muß zu meinem Wagen. Das können die doch nicht machen“, versucht unterdessen eine Rollheimerin, die seit vier Jahren an der East Side Gallery lebte, ihrer Hilflosigkeit Luft zu verschaffen.

„Die Tuberkulosefälle sind ein Vorwand für den Platzverweis“, meint Ursula Wendorf, die seit zwei Jahren den Platz als Streetworkerin der Treberhilfe betreut: „Es hat vor einiger Zeit zwei TBC- Fälle gegeben. Die Leute befinden sich aber längst in Behandlung.“ Eine halbe Stunde gewährte die Polizei der Streetworkerin Zugang zum Gelände. Die BewohnerInnen, sagt sie, waren trotz aller Zusagen und Absprachen, die sie als Vermittlerin zuvor mit offiziellen Stellen getroffen hatte, nicht vorab informiert worden. Daß die WagenburglerInnen – für zwei Drittel war die East Side Gallery immerhin ihre Meldeadresse – über die Sozialämter bevorzugt mit Wohnraum versorgt werden sollen, hält Wendorf für leere Versprechungen. „Ich habe erfahren, daß nur für 20 Frauen und Männer von der Sozialverwaltung Notquartiere zu Verfügung gestellt wurden. Noch dazu in einem Heim, in das sie keine Hunde und andere Tiere mitnehmen dürfen.“

Nach West-Staaken will keiner der Betroffenen. „Dort sollen noch nicht einmal Wasser und Energie vorhanden sein.“ Die Entscheidung für den Standort am Rande Berlins sei am Tag vor der Räumung gefallen, erklärte der Staatssekretär des Innensenats, Eike Lancelle, vor Ort. „Dort wird dafür gesorgt werden müssen, daß nicht wieder ein gefährlicher Ort entsteht.“ Das Gelände hinter der East Side Gallery, so der Staatssekretär, werde die Eigentümerin ab sofort absperren, von einem Wachschutz kontrollieren lassen und Geld investieren, „damit es endlich einem vernünftigen Zweck zugeführt wird“.

Der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) begründete die nun doch überraschende Räumung gestern offiziell mit dem Auftreten von Tuberkulosefällen. „Aus Gründen der Seuchenbekämpfung“, sagte er, „wird eine Separierung von Personen erforderlich sein.“ Die Grünen bescheinigen dem Innensenator indes, daß er „vor Law-and-order-Denken“ nur so „triefe“.

Der Exgeneral, der in Berlin bereits mehrere besetzte Häuser räumen ließ, hält dagegen: „Die Räumung der East Side Gallery ist ein weiterer Schritt zur Behebung von schwerwiegenden Mißständen, die das Ansehen Berlins und den Stolz der Berliner auf ihre Stadt empfindlich beeinträchtigen.“

Obwohl auch der Berliner Senat weiß, daß mit dieser polizeilichen „Lösung“ ein Problem nur verschoben wird, hat vor allem die Hauptstadt-CDU seit langem auf die Räumung der etwa 250 Bauwagen und ihrer BewohnerInnen hingearbeitet. Spätestens als im April dieses Jahres ein 19jähriger Mann aus Eisenhüttenstadt, der auf dem East-Side-Gelände Drogen kaufen wollte, erstochen und drei Tage später ein Tourist in unmittelbarer Nähe der Wagenburg mit einer Eisenstange schwer verletzt worden war, war die Räumung beschlossene Sache. Nur die Suche nach einem geeigneten Ersatzstandort stand einem sofortigen Polizeieinsatz noch im Wege.

Ein soziales Problem war die East-Side-Wagenburg nicht immer. 1990, als kurz nach dem Mauerfall eine Wagenburg im künftigen Regierungsviertel an der Wilhelmstraße weichen mußte, zog es viele der dortigen Rollheimer an die Spree. Einer von ihnen war „Trekker-Bekker“, ein stadtbekannter Fuhrunternehmer, der mit seinem Traktor vielen AutofahrerInnen der Stadt als regelmäßiges Verkehrshindernis bekannt ist. Wegen der zunehmenden Vermüllung des Geländes – auch Fremde kippten dort regelmäßig ab – zogen viele Rollheimer allerdings in andere, „saubere“ Wagenburgen. Ihren Platz nahmen immer mehr obdachlose TrebegängerInnen und Drogenabhängige ein, die East Side wurde zur Berliner Problem-Wagenburg. Auch die StreetworkerInnen, die der Bezirk Friedrichshain nach dem Mordfall im April eingesetzt hatte, konnten wenig ausrichten. Zuletzt stufte die Polizei die Wagenburg als „gefährlichen Ort“ ein.

Selbst die anderen WagenburglerInnen in Berlin, die Ostern auf den bundesweiten Wagentagen zu den Vorfällen auf der East Side Stellung nehmen mußten, gingen auf Distanz. Sie erklärten aber ein um das andere Mal, daß sich das Problem East Side nicht polizeilich lösen ließe, sondern durch eine Räumung nur an einen anderen Ort verlagert werde.

Dieser Ort soll nun das an der Grenze zu Brandenburg gelegene West-Staaken im Bezirk Spandau sein. Nachdem ein ehemaliges Stadtgut im Ostberliner Bezirk Weißensee nach Protesten von Anwohnern und Umweltschützern als Ersatzstandort aufgegeben wurde, hatte sich der Senat, trotz heftiger Proteste und einer Medienkampagne der Boulevardpresse, die sich um die Brandenburger Luft und die Sauberkeit des Trinkwassers sorgte, am Dienstag für Staaken entschieden.

Von der absoluten Mitte Berlins an die Peripherie der Stadt: ein völlig verrottetes Grundstück in West-Staaken, wo einmal Stahl gelagert wurde. Hier gibt es nichts als verwilderte Wiesen, knapp einen Kilometer entfernt wird die ICE- Strecke nach Hannover ausgebaut. West-Staaken, einst DDR, gehört wieder zum Berliner Bezirk Spandau. Nach dem Mauerfall sind viele Familien hierhergezogen. Einfamilienhäuser, Vorgärten – und Kinder. Die geben nun auch den Grund ab für den Protest der West-Staakener, nachdem gestern bekannt wurde, daß der Senat in einer geheimen Sitzung beschlossen hat, die WagenburglerInnen von der East Side Gallery hier anzusiedeln.

In unmittelbarer Nachbarschaft des Geländes befinden sich eine Grundschule und vier Kindergärten. Die Kinder müßten auf dem Weg zur Schule an der Wagenburg vorbei, und davor haben die Eltern Angst. Elke Reese, Mutter von vier Kindern, möchte die Rollheimer deshalb am liebsten in den Nobelbezirk Zehlendorf schicken. „Da sollen die Politiker sich mit denen rumschlagen.“

Sie hat von der „Nacht-und-Nebel-Aktion“ des Senats am Dienstag abend beim Grillen mit NachbarInnen erfahren. Nach der ersten Empörung schlossen sich noch am gleichen Abend rund 30 AnwohnerInnen zusammen. Mit eilig gemalten Pappschildern demonstrierten sie gestern vor dem Rathaus. Manuela Wetzel ist auch dabei. Sie hat mit ihrem Mann 600.000 Mark für ein Eigenheim hingeblättert: „West-Staaken ist eindeutig der falsche Standort.“ Sie hofft, daß ihr Protest genauso erfolgreich sein wird wie in der Nachbargemeinde Dallgow. Dort sollte die Wagenburg zuerst hin.

Auf dem eingezäunten, alten Stahllagerplatz gibt es keine sanitären Anlagen, der Boden soll von Industrieabfällen verseucht sein. Nicht nur die AnwohnerInnen, auch die SPD Spandau ist über die Politik des Senats verärgert. So erfuhr der stellvertretende Bezirksbürgermeister Fredy Stach erst gestern morgen von dem Beschluß: „Dies ist ein undemokratisches Verhalten!“

Oder nur ein taktisches: Denn mehr als ein Zugeständnis an den Koalitionspartner SPD, der gefordert hatte, Wagenburgen nur dann zu räumen, wenn es Ersatzflächen gebe, dürfte diese Entscheidung des Senats ohnehin nicht gewesen sein. Schließlich zeigt sich selbst Innensenator Schönbohm zuversichtlich, daß West-Staaken gar nicht erst in Anspruch genommen wird: Es habe keine nennenswerte Bereitschaft seitens der WagenburglerInnen gegeben, „einen Platz an der Peripherie der Stadt zu akzeptieren“.