Linken Liberalismus begründen

■ betr.: „Grüner Selbsthaß“, taz vom 2. 7. 96

Grundsätzlich ist Micha Brumliks These zuzustimmen, Grüne sollten den Sozialstaat nicht zugunsten freier Initiative aufgeben, denn der Sozialstaat stellt den Wert der Freiheiten, die in liberalen Verfassungen niedergelegt sind, sicher. Die Frage bleibt jedoch, ob der Sozialstaat die „komplexen Gesellschaften einzig angemessene Form einer umfassenden Solidarität von Bürgerinnen und Bürgern“ darstellt, ob die Option für den Sozialstaat ohne Ergänzungen ausreicht, um den bestehenden sozialen Problemen entgegenzutreten. Ist es zudem nötig, sich in wirtschaftlichen Notzeiten zugunsten des Sozialstaates über Sparzwänge hinwegzusetzen?

Die Anfrage läßt sich aufgrund von Brumliks theoretischer Grundlegung zuspitzen: Lassen sich das Motiv freier Initiative nach Art liberaler Parteien und der Sozialstaatsgedanke als sich ausschließende Gegensätze gegenüberstellen?

Die Frage ist zu verneinen, denn um den Charakter einer komplexen Gesellschaft behalten zu können, müssen Gegengewichte gegen das bürokratische Prinzip bestehen. Darin besteht das Recht eines liberalen Urmißtrauens gegen eine Verselbständigung des Staates gegenüber den BürgerInnen: in seiner wesensmäßigen Tendenz, das Prinzip der Gerechtigkeit zugunsten des Machtstaatsprinzips zu verlieren. Politische Freiheit ist also immer erkämpfte Freiheit, und daher sind Korrektive unverzichtbar, die dem Staat gegenüber das von ihm durchzusetzende Recht stetig einklagen. Um die Komplexität des Sozialstaates zu erhalten, braucht es daher auch checks and balances, Lager und Widerlager als eine politische Kultur kritisch-widerständigen Gemeinsinns.

In dem Punkt ist jedoch zu widersprechen, wo kritischer Gemeinsinn nicht als personales, basisorientiertes Korrektiv, sondern als Gegensatz zum Sozialstaat verstanden wird, denn es muß auch in personalen Beziehungen einen Ort für ein umfassendes Wir-Prinzip, darin für eine vorrangige Wirksamkeit der von sozialen und kulturellen Zusammenhängen unterschiedenen Gerechtigkeit geben. Praktisch ausgedrückt: Die Gerechtigkeit muß – im Kantischen Sinn – zum Beispiel Nachbarschaftsinitiativen, sozialen Projekten, aber auch sozialen Wertsystemen institutionell, auch bürokratisch, vorgeschaltet bleiben.

Es ergeben sich zweifach Konsequenzen: Zum einen schafft die Notwendigkeit von Gegengewichten gegen die Staatlichkeit bei der Bekämpfung sozialer Not Raum für Religionsgemeinschaften, Sozialverbände, Gewerkschaften, soziale Gemeinwesenarbeit, Initiativen von BürgerInnen. Die Vision einer sozial gerechten BürgerInnengesellschaft kann sich so, häufig wohl nur im Fragment, in einem Sozialstaatskonzept verwirklichen, das kreative Lösungen zuläßt.

Zum anderen werden durch freie soziale Initiativen finanziell tragfähige Lösungen möglich (vgl. die derzeitige Situation der Koalition in Schleswig-Holstein), die später, bei besserer Finanzlage, entweder mit dem Sozialstaat verbunden oder durch möglicherweise angemessenere staatliche Lösungen ersetzt werden können. Dabei werden auch soziale Initiativen, die etwa die gegenwärtige Not ausnutzen, in ihrer Wirksamkeit durch den vorgeschalteten Sozialstaat gebrochen.

Brumliks These ist also zu ergänzen: Ohne die gegenseitig bezogenen Gewichte einerseits der prophetischen Kritik des sozialstaatlichen Prinzips an der Ungerechtigkeit des Marktsystems, andererseits der durch die liberale Soziallehre motivierten Kritik an der Tendenz des Staates, seine BürgerInnenrechte zugunsten von Macht oder politischer Erlösung aufzugeben, ist der Sozialstaat in seiner fortschrittlichen Form nicht zu haben.

Fazit: Wir Grüne sollten uns – wie Brumlik vorschlägt – auf den Sozialstaat hinbewegen, Kreditaufnahme nicht ausschließen, Einseitigkeit jedoch kann sich ungünstig auswirken; wir sind in der gegenwärtigen Lage gefordert, die Spannung auszuhalten, um einen linken Liberalismus zu begründen, der ein Liberalismus bleibt. Jan-P. König, Reinbek