Chassidisches Zwischenreich

Knappes Budget beim 50. Theaterfestival in Avignon. Französische Regisseure inszenieren deutschsprachige Autoren – etwa Josef Nadj  ■ Von Jürgen Berger

Josef Nadj hat nichts dagegen, wenn man seine Choreographien als Wandern im Labyrinth mit ungewissem Ausgang bezeichnet, obwohl Bilder, Bewegungsabläufe und skulpturale Bühnengestaltung seiner Tanzabende natürlich alles andere als zufällig sind. Bis vor kurzem galt der im serbischen Kanjiza geborene Grenzgänger zwischen Tanz und Theater (siehe taz-Tagesthema vom 17.7.) noch als Geheimtip, inzwischen ist er Chef des Tanzzentrums von Orléans und wird mit zwei in Avignon uraufgeführten Produktionen auf Europatournee gehen. „Die Kommentare des Hababuc“ werden in Berlin und der „Schrei des Chamäleons“ in Hamburg zu sehen sein. Mit der zweiten Produktion betritt Nadj Neuland, hat mit Schülern der Nationalen Zirkusschule Frankreichs artistisches Tanztheater choreographiert. Avignon-Premiere ist in diesen Tagen.

In „Die Kommentare des Hababuc“ geht Nadj weiter als viele der aktuellen Versuche, dem Tanztheater eine neue Wendung zu geben, und schickt zwei Tänzerinnen und acht Tänzer in ein chassidisches (Hababuc ist einer der jüdischen Propheten) Zwischenreich, in dem Körper und Gegenstände ein Eigenleben zu führen scheinen. Da werden rechteckige Quader zu immer neuen Formationen gelagert, lassen Tänzer verschwinden oder geben sie preis. Und da kommen zwei Tänzer voluminös ausgestopft auf die Bühne, aus den Ärmeln ihrer Mäntel aber ragen seltsam zarte Hände, die eigentlich nichts mit den raumfüllenden Körpern zu tun haben können. Wenn dann plötzlich die obersten Mantelknöpfe aufgehen, kommen die Gesichter der beiden Tänzerinnen zum Vorschein; aus den Körpertonnen ist ein doppelgesichtiges Mischwesen geworden.

Das alles folgt aufeinander, als habe Nadj eine Reihe von Dominosteinen aufgestellt und mit dem Sturz des ersten eine Kettenreaktion hervorgerufen. Der Sturz der Steine ist zwar unkalkulierbar, das Ganze aber unausweichlich wie die nächste Mondfinsternis. Nicht von ungefähr wird man an Kafka erinnert, der dieses Jahr tatsächlich in Avignon zu Ehren kam: in einem Schwerpunkt mit Stücken deutschsprachiger Autoren, inszeniert von jungen französischen Regisseuren wie Dominique Pitoiset, der eine Adaption von Kafkas „Prozeß“ vorlegt. Eine bemerkenswerte Umsetzung des jungen Intendanten des Nationaltheaters der Bourgogne, die er in Avignon auf einer konkaven, steil ansteigenden Spielfläche zeigt. Ein unglaubliches Bild, wenn an diesem glatten Berghang immer wieder Luken aufgehen und Kafkas Personnage vom Advokaten über den Richter bis zum Fräulein Bürstner auftaucht, um Josef K. wie aus einem von Kaurismäki inspirierten Film zu erscheinen.

Gemischter die Gefühle bei Didier Bezaces Konfrontation von Brechts „Kleinbürgerhochzeit“ mit Szenen aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Bezace leitet das Theater im Aquarium, das in Ariane Mnouchkines Pariser Cartoucherie untergebracht ist, und hatte eine bestechende Grundidee. Warum nicht Brechts Kleinbürgerkatastrophe als Weimarer Vorspiel des Dritten Reiches und als Flucht nach vorne in den Abgrund auf die Bühne bringen? Bezace inszeniert das in Manier von Frankreichs Slapstickregisseur Jerôme Deschamps, der inzwischen auch im Fernsehen Ticks, Tricks und Flips der kleinen Leute zeigt. Dann die gleiche Festgesellschaft nach der Machtübernahme durch die Nazis, nicht wie in Brechts „Furcht und Elend“ individuell verschieden, sondern als ängstliche Herde unter einem Regenschirm. Ein Alptraum. Dazwischen hämmern allerdings immer wieder kurze Hitler-Reden, von einem französischen Schauspieler in gebrochenem Deutsch gesprochen. Plumpes Theater und unvereinbar mit der subtil-bedrohlichen Atmosphäre der Inszenierung.

Wille zur Reise in den Abgrund könnte auch als Motto über Pierre- Alain Chapuis' Inszenierung von Hans Magnus Enzensbergers „Untergang der Titanic“ stehen, der die 33 Gesänge der Vorlage hauptsächlich einem Schauspieler anvertraut: Philippe Clévenot, der die Gelegenheit allerdings weidlich ausnützt und emphatisch die Stimme erhebt.

Gegen Ende des über vierwöchigen Marathons (noch bis zum 3. August) wird das französische Publikum geballte Bekanntschaft mit Thomas Bernhard machen („Alte Meister“, „Einfach kompliziert“) und das weltweit größte und älteste Theaterfestival sein halbes Jahrhundert fast abgerundet haben. Daß die Zeiten auch in Frankreich hart sind, demonstriert Festivalchef Bernard Faivre d'Acier mit dem diesjährigen Plakat: Es zeigt eine Hand und die berüchtigte nach außen gestülpte leere Hosentasche. Wegen Budgetkürzungen kann man nur noch mit einem reduzierten Programm und Koproduktionen reagieren, zu denen dieses Jahr Silviu Purcaretes Inszenierung von Aischylos' fragmentarischen „Daniden“ gehört. Die haben schon während der Wiener Festwochen für Euphorie gesorgt, in Avignon ist die Massenchoreographie des rumänischen Regisseurs im nahe gelegen Steinbruch von Boulbon zu sehen. Bildmächtiges und derart phantasievolles Theater, daß der Text manchmal nebensächlich wird.

Josef Nadj: „Les commentaires d' Hababuc“ 10.–15.2. 1997 im Hebbel Theater, Berlin; „Le cri du caméléon“ vorauss. 12.–25.4. 1997 in der Kampnagel-Fabrik, Hamburg