Der Häuptlingskult

Teil 3: Das untertänige Gebaren der Hanse-Politiker gegenüber ihrem Stammesoberhaupt  ■ Von Silke Mertins taz-Serie: Die Stammesriten der Bürgerschaft

Ein Hanse-Häuptling (Eigenbezeichnung: Bürgermeister) trägt in der Öffentlichkeit keine Federn, nicht einmal zu festlichen Anlässen. Der Stammesfürst hat stets einen Lieblings-Clan. In der ethnologischen Gegenwart ist es die „SPD“. Scharfe Mißbilligung bringt das Oberhaupt dadurch zum Ausdruck, daß es in Papieren (Eigenbezeichnung: Drucksachen) blättert, Unterlagen abzeichnet und Briefe unterschreibt, während ein Hanse-Politiker (Eigenbezeichnung: Bürgerschaftler) redet. Das betroffene Stammesmitglied tut dann so, als habe es die Mißachtung nicht bemerkt, ist aber in Wahrheit tief gekränkt und wird später das Gespräch mit dem Häuptling suchen. Doch auch da wird der Geschmähte seine Gefühle nicht zeigen, sondern – überwältigt von der Erotik der Macht – das Oberhaupt anstrahlen, über dessen Scherze laut lachen und nur soweit seine Meinung zum Ausdruck bringen, wie es sich einer Autorität gegenüber geziemt.

Der derzeitige Häuptling – ein gewisser Henning Voscherau – bezeichnet sich gern als „Kapitän“. Damit versucht er traditionelle Verbundenheit mit der Hafenstadt zu konstruieren. Der „Kapitän“ ist einer, der auf einem Schiff die Befehle erteilt. Wird dem „Kapitän“ nicht gehorcht, ist eine Meuterei im Gange, und das kann mit dem Tod der Rädelsführer bestraft werden. Auf Hängen, Erschießen oder Auspeitschen wird in der Bürgerschaft verzichtet.

Die Sanktionen sind feingliedriger. So gehört es zum Häuptlingskult, dem Oberhaupt nie die Aufmerksamkeit zu versagen, ihm also immer das Gefühl zu geben, die wichtigste Person dies- und jenseits der Elbe zu sein. Wo immer also der Bürgermeister sich hinstellt oder -setzt, wird man sich stets ihm zuwenden, das Wort an ihn richten und den seinen lauschen. Wer diese Regel verletzt – egal aus welchem Clan –, wird geächtet. Innerhalb des eigenen Clans, der „SPD“, oder gar seines Hofstaates (Eigenbezeichnung: Senatoren) können die Konsequenzen brutal sein. Der Betreffende wird für immer die Gunst des Häupt- lings verlieren und nie in die Gruppe der Thronfolger aufgenommen.

Frühe Reiseberichte vermuteten, daß die Stammesoberhäupter der Bürgerschaft ihre Untergebenen mit ihrem Geruch betören und gefügig machen. „Der Häuptling der Hanse-Politiker ist einer, dessen Körpergeruch so unwiderstehlich zu sein scheint, daß die Augen der einfachen Stammesmitglieder glasig werden, die Worte willenlos aus den Mündern purzeln, die soeben noch gedachte Kritik in Herzrasen untergeht“, schreibt ein Völkerkundler zu Beginn dieses Jahrhunderts. Doch diese Einschätzung hat sich als unrichtig erwiesen: Tatsächlich riecht der Häuptling sehr gewöhnlich. Eine gewisse Homoerotik, die einige EthnologInnen entdeckt haben wollen oder daraus schließen, daß die Hanse-Häuptlinge von (vorwiegend) Männern gewählte Männer sind, ist allerdings nicht völlig von der Hand zu weisen.

Auf die komplizierten Initiationsriten wird noch einzugehen sein. Doch den erheblichsten Teil der Einführung in den Häuptlingskult erlernt der Jung-Bürgerschaftler durch die Nachahmung. Indem er sieht, wie die älteren Stammesmitglieder eine körperliche und verbale Unterwerfungshaltung einnehmen, wird auch er selbst dies tun.

Am nächsten Sonnabend in Folge 4: Sexualleben, Fruchtbarkeit und Fortpflanzung