„Nicht ans Kreuz nageln“

taz-Serie Rebellen & Querköpfe, Folge 3: Karsten Hinrichsen, der wackere Kämpfer wider das AKW Brokdorf  ■ Von Heike Haarhoff

Hoch oben vom Brokdorfer Elb-Deich ist das Panorama des atomaren Dreigestirns unverstellt. „Hier rechts, das ist Brunsbüttel. Da hinten, in der Mitte“, der ausgestreckte Männerarm deutet auf einen Punkt am Horizont, wo die Unterelbe einen Knick macht, „sieht man den Schornstein von Stade. Und zu unserer Linken: Brokdorf.“ Wie gute alte Bekannte stellt Karsten Hinrichsen die drei Kernreaktoren vor, denen er seit zehn Jahren die Existenzberechtigung abspricht.

„Atomkraftwerke sind geeignet, das Leben einer ganzen Nation zu verändern.“ Die Stimme des 53jährigen Meteorologen aus dem 900-Seelen-Brokdorf klingt verwirrend sanft, wie er da von Gesundheitsgefahr und Unfallrisiko in seiner unmittelbaren Nachbarschaft spricht: „Deswegen müssen die weg.“

Da steht kein Fanatiker, der flammende Reden gegen die Atomkraft hält. Die Anklage hat Hinrichsen längst erhoben: Wenn sich die Inbetriebnahme des AKWs Brokdorf im Oktober zum zehnten Mal jährt, begeht auch der Hamburger Uni-Dozent Hinrichsen ein Jubiläum. Im Herbst 1986 hat er die schleswig-holsteinische Landesregierung, damals unter dem CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel, wegen „unrechtmäßiger Betriebsgenehmigung“ des Atommeilers verklagt. Und zwar bis vors Bundesverwaltungsgericht.

„Ein Akw zu verhindern, ist natürlich ein großes Ziel.“ Daß ausgerechnet er, der eher zierlich aussieht, eine der tragenden politischen Kräfte der norddeutschen Anti-AKW-Bewegung werden würde – noch vor 20 Jahren hätte Karsten Hinrichsen allen einen Vogel gezeigt. „Mein Vater hat Die Welt gelesen. So einer war ich auch.“ Bis Mitte 30 gab es für ihn nichts als die wissenschaftliche Karriere. Und dann diese Unzufriedenheit: „Ich dachte, was du da tust an der Uni, interessiert doch niemanden.“ Ein Film über einen französischen Arbeiter in einer Atommüll-Wiederaufbereitungsanlage hat ihn dann „mörderisch“ beeindruckt: „Wie dieser Mann sich Sorgen gemacht hat, was mit seinem Kind wird. Ob er, weil er heute ein Rohr gesägt hat, das radioaktiv war, etwas eingeatmet hat, ob die Maske dicht war. Ich dachte, was muß das erst für ein beschissener Job sein, von dem du nicht mal nach Feierabend loskommst.“

Als Naturwissenschaftler Ende der 70er Jahre die „prozeßbegleitende Gutachtergruppe“ gründeten, um die Kläger gegen die ersten Teilerrichtungsgenehmigungen von Brokdorf mit Fachstudien zu unterstützen, stand für den promovierten Meteorologen fest, daß er „Experte für die Ausbreitung radioaktiver Schadstoffe werden“ und die geplante Habilitation liegenbleiben würde.

Heute wohnen Karsten Hinrichsen und seine Frau direkt hinterm Deich in Brokdorf. Das Bauernhaus ist holzbeheizt, im Garten sprießen 70er-Jahre-Ideale für Lebensqualität. Wie zum Widerstand überziehen Sonnenkollektoren und eine Photovoltaik-Anlage zur Warmwasser- und Stromerzeugung das Dach. In unmittelbarer Nähe zum AKW baute Hinrichsen schon vor Jahren trotzig eine eigene Windmühle. „Doch diese Kisten“, die Augen fixieren das weiße Kuppelbauwerk am Flußufer, „verhindern, daß ich mein Leben so leben kann, wie ich es mir wünsche: Torte essen, Erdbeeren ernten und abends auf dem Deich das Wetter beobachten“.

Karsten Hinrichsen ist zäh. Mit der Akribie eines Wissenschaftlers hat er aktenweise Nachweise über die Risiken von AKWs erbracht. Im Arbeitszimmer stapeln sich seine Berechnungen über den Einfluß von Wind, Temperatur, Wetter auf Reaktorenstandfestigkeit und Schadstoff-Ausstoß. Das gibt ihm die Gewißheit, „besser als die Richter zu wissen, warum die AKWs abgeschaltet werden müssen“. Als die Lüneburger Oberverwaltungsrichter sich bereits glücklich wähnten, den lästigen Brokdorf-Kläger endlich losgeworden zu sein, verspürte der erst recht Auftrieb: Er wies ihr Versäumnis nach, das Urteil binnen fünf Monaten schriftlich begründet zu haben. Wegen des Formfehlers muß der Prozeß jetzt vor dem OVG Schleswig neu aufgerollt werden.

Auch die dortigen Richter bekamen im vergangenen Januar gleich zu spüren, was es heißt, es mit Karsten Hinrichsen aufzunehmen: Der lehnte sie erstmal – wenn auch erfolglos – als befangen ab: „Die haben mir von Anfang an zu verstehen gegeben, daß der Fall für sie inhaltlich abgeschlossen ist.“

Das ist er für viele Brokdorfer auch. Die meisten im Dorf leben in friedlicher Koexistenz mit dem Atommeiler am Elbufer. Seit Generationen haben sie hier ihre Höfe, ihre Familie. Hinrichsen ist für sie der „einsame Spinner“. Einer, der nicht im Sportverein ist und nicht schwimmen geht. Die riesige Mehrzweckhalle und das beheizte Freibad mit überdimensionaler Rutsche, sagt er, „sind doch Geschenke des Atomkraftwerks“.

Lieber, zischeln die Nachbarn, verbringt Hinrichsen seine Freizeit als notorischer Unruhestifter. Der Mahnwachen und Demonstrationen anzettelt, notfalls die Fernsehkameras ins Dorf holt und allen ein schlechtes Gewissen einredet, „daß unser ganzer rosiger Wohlstand auf Kosten unserer Kinder und Enkel ist“. Der ist doch „bloß hierher gezogen, um gegen das AKW zu klagen“, schimpfen sie.

Tatsächlich reiste der anstrengende Genosse erst vor zwölf Jahren aus Hamburg zu, kurz bevor das AKW ans Netz ging. „Der Mittelstand hatte damals den Drang nach einem Haus auf dem Land. Wir wollten dahin, wo wir schon Kontakte hatten: durch den Kampf gegen Brokdorf.“ Und den meint er nur gut: „Ich führe den Prozeß stellvertretend für sie alle.“

Gedankt wird es ihm selten. Die 50.000 Mark Prozeßkosten wurden durch finanzielle Unterstützung von Initiativen gedeckt. Ihrerseits aber haben sich die Klägergruppen von einst resigniert verglichen; andere Verfahren wurden eingestellt. Ohne Änderung des Bundes-Atomgesetzes lasse sich eben nichts bewirken. Das glauben inzwischen selbst die frisch in die Kieler Landesregierung gewählten Grünen: Sie beantragten, die Klage ihres eigenen Parteigenossen abzuweisen. Das habe ihn „ziemlich niedergeschmettert“, ge-steht der. „Die haben mich nicht mal gefragt, warum ich klage.“ Auf der grünen Landesliste belegte Hinrichsen im Frühjahr noch Platz zehn. Wieso verläßt so einer nicht türenknallend die Partei? „Ich habe die blöde Angewohnheit, das Verhalten anderer Leute zu entschuldigen.“ Und: „Demokratie und Menschenrechte sind auch nur dadurch entstanden, daß Leute zu ihrer Überzeugung gestanden haben.“ Märtyrer Hinrichsen? „Ans Kreuz nageln lassen würde ich mich dafür nicht.“

Denn vorher will der Marathon-Kläger vors Bundesverfassungsgericht: „Das ist mein höchstes Ziel. Klären zu lassen, ob AKWs nach Tschernobyl und Harrisburg mit dem Grundgesetz noch vereinbar sind.“ Sollte jedoch auch das mißlingen, würde er sich in der Tat zur Ruhe setzen: „Dann wäre ich ja auch 60.“

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