■ Vorschlag: Theater an der Grenze zum Markwort: Ficken 96 im WTF
Wenn ein hübscher Jüngling nackt auf der Alm steht und brünftig jodelt, dann kommen alle Schafe, egal welchen Geschlechts. Geil blökend, reiben sie ihr Hinterteil an den Lenden des Gipfel-Adonis. So einfach kann das sein mit der Libido. In der Bergeinsamkeit gibt es weder Moral noch Tabus. Schwieriger wird es bei Göttern. Wenn Paris über die Talente von Athene, Aphrodite und Hera urteilen soll, beginnen die Probleme: Weisheit versus Lust, Geld und Macht oder Liebe. Der Hirtenknabe entschied sich bekanntlich für Aphrodite, seither tobt alles ums ewige Thema. Da kriegen sich nicht nur Olympierinnen in die Haare: auch die darstellenden Mimen.
Im Zeitalter des Anything goes hat der Koitus als Diskursgegenstand gerade noch Aldi-Qualität. Dessen ist sich das Theater für Trillionen bewußt. Deshalb versuchen die vier regisseurlosen SchauspielerInnen bei ihrer Eigenproduktion erst gar nicht, daraus spektakuläre Seiten zu ejakulieren. Der Titel klingt zwar nach Schlingensief, aber Haudrauf-Provo ist es nicht. Und mit einer Bestandsaufnahme der Fast-sex-Gesellschaft haben die vier auch nur am Rande etwas im Sinn. Nein, sie haben in der Literatur gekramt und stießen auf wunderliche Pretiosen. Von einem biederen Herrn, der leidenschaftlich der Onanie verfällt, handelt ein Text, von der Vereinigung eines Knaben mit einer Schildkröte ein anderer. Der Junge muß sein Begehren mit dem Leben bezahlen. Denn zum Sex im Meer sind Widerhaken nötig, die kein Mensch verkraftet.
Von Boccaccio und Platon, Ginsberg und Burroughs stammen die Beiträge zu diesem exotischen Liebeskompendium. Gudrun Herrbold, Claudia Knichel, Andreas Stadler und Armin Zarbock collagieren die Bekenntnisse aus den Kellern der Begierde zu einem lustvollen Performance-Mix. Da gibt es zwar Busen und Po, Dildos und Plastikmösen, trotzdem wird es nie schlüpfrig. Spielerisch turnen die Akteure auf dem Perpetuum mobile der Triebe herum, zwischen getanzter Ekstase und Tod, unerfüllbarer Sehnsucht und Angel Baby. Getragen wird der Reigen von Ambient-Musik (Digital Joy und Cybersnack), die peitscht oder schmeichelt, ganz wie auf der Matratze. Eine Love Parade im Boudoir der erotischen Phantasien, ein bißchen Tiefgang eingeschlossen. Gerd Hartmann
„Ficken 96“, bis 20.8., täglich außer Do., 21.30 Uhr im WTF, Holzmarktstraße 11, Mitte
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