Die Telefonleitung als Rettungsseil

Älteste deutsche Telefonseelsorge wird vierzig Jahre alt. Acht Angestellte und 100 Ehrenamtliche sind 24 Stunden täglich im Einsatz. Fangschaltungen für Suizidgefährdete gibt es nicht.  ■ Von Markus Langner

„Ich hätte nie gedacht, daß ich Sie eines Tages anrufen werde. Aber wissen Sie, was mir passiert ist – ich weiß nicht mehr weiter ...“ Wenn bei Jürgen Hesse das Telefon klingelt, sitzen am anderen Ende der Leitung Menschen, die nicht mehr ein noch aus wissen. Menschen, die verzweifelt auf der Suche nach einem offenen Ohr sind. Menschen, die keinen Rat mehr wissen. Sogar Menschen, die ihrem Leben ein Ende bereiten wollen. Hesse ist Geschäftsführer der Telefonseelsorge Berlin. Einer, der Dienst am Menschen leistet. Ein Psychologe, der zuhört, aber nicht diktiert.

„Jürgen Hesse, guten Tag“, die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt fremd und doch vertraut. Ein Freund, den man nicht kennt, dem man sich aber anvertrauen möchte. Seit zwanzig Jahren ist er Telefonseelsorger, hat sich in dieser Zeit des gesamten Spektrums menschlicher Probleme angenommen. Und trotzdem: „Jeder Anrufer ist etwas Besonderes. Man weiß nie, was einen erwartet. Routine gibt es auch nach zwanzigjähriger Dienstzeit nicht.“

Acht Angestellte und 100 ehrenamtliche Mitarbeiter haben 24 Stunden täglich und 365 Tage im Jahr ein offenes Ohr für die Probleme. Sie hören zu, versuchen Kompromisse zu finden. Aber sie zwingen keinem Anrufer ihre Meinung auf. „Das ist wichtig. Unsere Arbeit basiert auf Vertrauen. Fangschaltungen für Suizidgefährdete gibt es nicht. Will jemand anonym bleiben, ist das in Ordnung“, so Hesse.

Pubertäre, finanzielle, partnerschaftliche oder Probleme einsamer Menschen beschäftigen die Telefonseelsorger. Oft hängt dabei der Begriff Suizid wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. „Doch wir wissen auch damit umzugehen.“

„Mindestens ein Anrufer pro Tag ist potentiell selbstmordgefährdet“, weiß Hesse. Doch die üblichen „Tu's nicht“-Sprüche kennt Jürgen Hesse nicht. „Wir sind nicht dazu da, permanent Leute von ihrem Tun abzuhalten. Wir sind nicht entsetzt. Wie fragen vielmehr nach dem Warum.“

Meist ergebe sich im Gespräch eine Kompromißbereitschaft, die den Suizidgefährdeten dazu bringe, sein Vorhaben zu überdenken. „Wir versuchen natürlich, ihm dabei behilflich zu sein. Seine Unentschlossenheit signalisiert ein Mensch ja bereits, indem er anruft.“

Meist gelingt dieses Vorhaben, in einigen Fällen jedoch nicht. „Das ist dann schwer für uns, wenn wir über einen Selbstmörder in der Zeitung lesen, von dem wir denken, daß er uns am Tag davor angerufen hat.“

Die Berliner Telefonseelsorge wird dieser Tage vierzig Jahre alt. Das erste Büro betrieb eine Familie 1956 in ihrem Schlafzimmer. 1957 wechselte sie – aufgrund der enormen Frequentierung – in ein Büro am Zoo. Älter als die Berliner Seelsorger ist nach Hesses Angaben nur eine ähnliche Einrichtung in England.

1953 fragte sich ein Londoner Priester namens Thad Varah, wie er die hohe Suizidrate in seiner Stadt senken könne. Er inserierte am 2. November 1953 in einer Zeitung: „Bevor Sie sich versuchen umzubringen, rufen Sie mich an“. Der Rücklauf übertraf seine kühnsten Erwartungen.

In regelmäßigen Abständen führt die Telefonseelsorge Ausbildungen für ehrenamtliche Mitarbeiter durch. Der nächste Kurs beginnt im kommenden Oktober. „Mitmachen kann grundsätzlich jeder, der glaubt, gut mit Menschen umgehen zu können, und der bereit ist, präventive Arbeit zu leisten“, sagt Jürgen Hesse. Interessenten können sich unter der Telefonnummer (030) 613 50 23 melden. Das Sorgentelefon ist unter 111 01 zu erreichen.