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Wo die Limousinen grasen

Selbst für Franzosen ist das Limousin ein unbeschriebenes Blatt. Jetzt sucht die Transitregion – grüne Hügellandschaft mit roter Porzellanstadt Limoges – den touristischen Anschluß  ■ Von Günter Ermlich

Sportliche Anlässe, die Schlagzeilen machen, sind mitunter für geographischen Nachhilfeunterricht tauglich. So auch im Fall Limoges. Wann hatte man früher schon von der „Hauptstadt des Limousin“ gehört? Erst als das deutsche Davis-Cup-Team im April von der französischen Equipe in Limoges 5:0 abgesägt wurde, konnte zumindest die deutsche Tennisöffentlichkeit „Limoges“ verorten. Apropos abgesägt: Seit im September 1914 Generalstabschef Joseph Joffre 134 „unfähige“ Offiziere von Paris nach Limoges verbannte, bedeutet das Tätigkeitswort „limoger“ kaltstellen – oder eben absägen. Eine kaltgestellte Region?

Transitregion zu sein ist das touristische Schicksal des Limousin. Selbst für Franzosen ist diese klassische en passant-Gegend ein unbeschriebenes Blatt, nur im Vorbeifahren wahrgenommen auf dem Weg an die Atlantikküste oder in die Pyrenäen. Mit der Autobahn Paris bis Brive-la-Gaillarde via Limoges erhoffen sich nicht nur die Touristiker eine größere Verkehrsanbindung und damit wirtschaftlichen Aufschwung.

Drei Autostunden südlich von Paris, am westlichen Rande des Zentralmassivs, geographisch mitten in Frankreich und gedanklich doch jwd, liegt das Limousin. Bestehend aus den drei Départements Haute-Vienne, Creuse und Corrèze, ist es mit 43 Einwohnern pro Quadratkilometer nach Korsika der am dünnsten besiedelte Landstrich Frankreichs. „La France profonde“, Frankreichs sehr ländliche Provinz. Die Landflucht hält unvermindert an. Viele Bauern sind im Rentenalter, ihre Nachkommen zieht es mangels Arbeit fort. Eine Grundschule nach der anderen muß schließen. „Leute von auswärts sollen sich hier niederlassen. Wir haben viel Platz. Ich will nicht, daß das Land ausstirbt“, sagt Anne-Marie Jandaud vom Fremdenverkehrsbüro des Départements Haute-Vienne fast trotzig. Engländer, Holländer und Deutsche erhören zunehmend ihren Appell, erwerben alte, aus Granit aufgehäufte Bauernhäuser und möbeln sie auf.

„Man braucht mehr als ein Leben, um alle verschiedenen Varianten der Farbe Grün in diesem Teil zu erfassen“, schwärmte der 1841 in Limoges geborene Maler Auguste Renoir von der Natur seiner Heimat. Eine hügelige Landschaft, die bis etwa 800 Meter ansteigt. Weitläufig schwingen die Bergkämme, mit Laubbäumen bewaldet, von Flüßchen und Wildbächen durchschnitten. Dazwischen liegen grüne, von Hecken umgrenzte Weiden. Der von Fels und Granitbrocken gespickte Boden ist karg. Die Feldwirtschaft tendiert gegen Null; dagegen floriert die Rinder- und Schafzucht. Allgegenwärtig kontrastiert das Rostrot des Rinds namens „Limousine“ (etwa 350.000 Exemplare mit vielfach attestierter Fleischqualität – macht eine Limousine auf zwei Einwohner) und das Weiß des Schafs mit dem Sattgrün der Wiese.

Zunehmend lassen sich hier Ortsfremde nieder, stadtmüde Aussteiger, die einen Narren an der beschaulich-urwüchsigen Gegend gefressen haben und touristisch etwas bewegen wollen. Wie die Familie Labbe, die ihr Hotel in Troyes verkaufte, um im kleinen Glénic das Hotel „Le Moulin Noyé“ (die ertrunkene Mühle), das zwei Jahre leer stand und selig vergammelte, zu erwerben. Vom Charme überwältigt, machten die Labbes mit 6 Millionen Francs (1,8 Millionen Mark) das Anwesen am Flüßchen Creuse wieder flott.

Das Chichi-Gehabe der Côte d'Azurianer war auch Philippe Coutisson gründlich satt. Er verzog sich ins Limousin, restaurierte eigenhändig ein Bauerngehöft und tischt heute im Restaurant „Les Mille Sources“ vom Feinsten auf. Das Ambiente ist familiär, man sitzt gemütlich wie im Wohnzimmer mit Blick auf den offenen Kamin, wo eine Ente am Faden pendelnd über der Holzkohle brutzelt. Eine Gourmet-Adresse, die vom ehemaligen Formel-1-Piloten Jacques Laffitte ebenso angesteuert wird wie von den immergrünen Chansonniers Johnny Hallyday und France Gall.

Laßt Wandteppiche um mich sein!

Pierre Lajoix hingegen stammt aus der Gegend. Sein Lebenstraum wurde wahr: 1983 erwarb der distinguierte ältere Herr, der bis vor kurzem Kunstbücher herausgab, Schloß Villemonteix. Von Wiesen und einem See umgeben, diente es einst als Wachburg, um den alten Handelsweg zwischen Atlantik und Mittelmeer zu überwachen. Die letzten 200 Jahre, erzählt sein jetziger Herr, stand das im 15. Jahrhundert errichtete Schloß nur herum, bevor es zuletzt ein Bauer in Pacht hatte und im Erdgeschoß seine Schweine hausen ließ. Für 800.000 Francs (etwa 242.000 Mark), „das sind zwei Zimmer in Paris“, übersetzt Lajoix schmunzelnd, habe er die 20-Hektar-Anlage erworben. Praktisch das gesamte äußere Gemäuer aus verfugten Granitsteinen ist noch im Originalzustand, nur ins „blinde“ Erdgeschoß mit der Küche hat er Fenster einfügen lassen. Die Rekonstruktionsarbeiten im Schloßinnern deckt er mit Eintrittsgeldern.

Lajoix, Schloßherr und Schloßführer in einer Person, will seinen Gästen aber keine Nullachtfünfzehn-Museumsvisite zumuten, er geleitet sie vielmehr durch ein bewohntes, mit kostbaren Wandteppichen und Antiquitäten angereichertes Schloß. Eloquent parliert er über Geschichte und Architektur, Soziologie und Mythologie, Mobiliar und natürlich die Tapisserie (Wandteppiche).

Die Wandbedeckung per Teppich diente einst als Ausdruck von Schönheit und Geschmack, von Reichtum und Komfort. Wenn die Schloßherren im Zeitalter Ludwig XVI. auf Tour gingen, pflegten sie ihre Tapisserie, ganz Statussymbol, mitzunehmen: In hochherrschaftlichen Gemächern wurden mit Gold und Silber durchwirkte Wandteppiche aufgehängt, in den Antichambres solche aus Seide und in den Räumen der Kurtisanen sogenannte Verduren, Wandteppiche mit in Grün getränkten Landschaftsbildern. Lajoix bedauert den Verlust dieser wandteppichzentrierten Lebensart. Den Wohnzimmerschrank der Oma könnten wir unterwegs ja nicht mitführen, den preziösen Wandteppich hingegen einfach zusammenrollen – und hopp – ins Hotelzimmer an die Wand hängen.

Besuch in der Tapisserie-Manufaktur St. Jean in Aubusson. Fingerfertig verwebt ein Ketter im weißen Kittel, von Hunderten bunter Wollspindeln umgeben, die parallel verlaufenden Fäden. Über der Jagdszene, ein Quadratmeter groß, wird er dreieinhalb Monate sitzen. Schwer verdientes Brot. Seit 32 Jahren hockt der 47jährige am Webstuhl. Sein Vater arbeitete schon hier, seine beiden Söhne wollen, wie die meisten Jungen, partout nicht mehr „in die Tapisserie“. Nebenan, in der Restaurationswerkstatt, bessert eine Frau an einem 400 Jahre alten flandrischen Wandteppich penibel die braunen Haare eines Jünglings aus. Kunststopfen mit feiner Nadel. Im Verkaufsraum hängt ein repräsentativer Aubusson-Teppich, ein Landschaftsmotiv mit Schloß, Brücke, Bach, Vögeln, Blumen. 3,30 Quadratmeter Grüntöne für 95.000 Francs (29.000 Mark). Die meisten Wandteppiche werden heute auf Bestellung für die Etablissements Gutbetuchter gefertigt.

Das kleine Aubusson im Département Creuse wirbt als „Welthauptstadt der Tapisserie“. 500 Jahre kunsthandwerkliche Tradition. Die ersten Teppichweber wählten exklusiv Landschaftsmotive, später widmete man sich stärker Personendarstellungen, die auf Episoden aus der Geschichte, Mythologie, Religion oder Literatur beruhten. Doch die glorreichen Teppichzeiten sind perdu. „Heute arbeiten nur noch etwa 150 Arbeiter – Knüpfer, Färber, Restaurateure und Seifensieder – in einem guten Dutzend Ateliers von Aubusson“, erklärt die Dokumentarin des örtlichen Tapisserie-Museums „Jean Lurcat“. Hier hängen alte flandrische Monumentalteppiche neben Exemplaren moderner Teppichkunst, die von Picasso, Braque oder Le Corbusier entworfen wurden. Was wären die Weber ohne die Künstler? Erst die Artisten mit ihren gemalten Vorlagen (cartons), erkannte der Tapisserie- Papst Lurcat, machten die Teppichweberei zur Kunstproduktion.

„Es lebe die soziale Republik!“

Vor fünfzehn Jahren war „Tourismus“ im Limousin noch ein Fremdwort. Heute gebe es immer noch kein Image, keine Marketingstrategie, keine Zieldefinition, bekennt Anne-Marie Jandaud vom Fremdenverkehrsbüro des Départements Haute-Vienne. „Tourisme diffus“ eben. Wobei sich hier ein grün gewandeter Tourismus geradezu aufdrängt: radeln, wandern, Kajak fahren, angeln. Mittelalterliche Örtchen, Schlösser und Burgen, romanische und gotische Kirchen in Augenschein nehmen. Wohnen in einem der 2.200 gites ruraux, Ferienhäuser auf dem Land, für deren Instandsetzung die Bauern Zuschüsse vom Département erhalten. Die gites d'enfants, wo Stadtkinder Landleben riechen können, haben Modellcharakter. Gruppen von acht bis zehn Kindern wohnen bei einer Bauernfamilie und können, je nach Angebot, erste Erfahrungen sammeln im Ponyreiten oder Angeln, Kanufahren und Tiereliebkosen.

Neben dem vielen Grün der Landschaft gibt es auf der Farbpalette des Limousin das politische Rot von „Limoges, la ville rouge“. Die Kapitale Limoges war ein bedeutendes Zentrum der Porzellanherstellung, 1827 gab es schon 42 Porzellanmanufakturen. Tag und Nacht flackerte das rötliche Licht der mit Holz gefeuerten Brennöfen über der Stadt. Die Arbeitsbedingungen waren miserabel, 1848 riefen die Porzellanarbeiter den ersten Generalstreik aus. „Es lebe die soziale Republik, es lebe die Emanzipation der Arbeiter, es lebe die Union.“ Unter dieser Losung wurde im Café de Paris zu Limoges 1895 die kommunistische CGT, Frankreichs älteste Gewerkschaft, gegründet. Von den damals zehntausend Porzellanarbeitern sind heute gerade noch zweitausend übriggeblieben. Erst jetzt besinnt sich die Porzellanstadt auf ihre Tradition und will eine touristische „Porzellanstraße“ anlegen.

Von der Geschichte der Subjekte erfährt man im Nationalmuseum „Adrien-Dubouch“ dagegen nichts. Statt dessen wollen zwölftausend Porzellanobjekte aus aller Welt bestaunt werden. Sechstausend sind ausgestellt, der Rest lagert glücklich(erweise) im Keller. Die Porzellan-Erklärerin macht eine Tour de force: Steingut, italienische Fayencen, Glas, Delft, Meißen, hartes und weiches Porzellan, 17. Jahrhundert, 900 Grad Celsius ... die Vitrinen werden zu Aquarien, die Porzellanfiguren verschwimmen zu Fischchen. Wen wundert's, daß das wunderschöne Jugendstilgebäude mit Deckengemälden und Rosettenfenstern früher mal ein Irrenhaus war.

Infos: Comité Régional du Tourisme, 27, boulevard de la Corderie, F-87031 Limoges,

Tel.: 0033/55451880

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