Der 94er war Spitze, der 95er Moruroa-geschädigt, und der 96er?

■ Der Bordeaux ist die größte Weinbauregion der Welt. Doch die Konkurrenz produziert immer mehr, immer besseren Wein

Der Weinkonsum geht seit Jahren zurück, die Konkurrenz auf dem Kontinent und in Übersee produziert immer mehr und immer besseren Wein, die Europäische Union reglementiert mit wachsender Energie in das Winzergeschäft hinein, und die sechs Atombomben von Jacques Chirac sind auch explodiert. Was kann da noch Schlimmeres passieren?

Im südwestfranzösischen Bordeaux wird vorerst keine neue Katastrophe erwartet. Ausgelassen feierten die 5.000 ChÛteau-Besitzer der größten Weinregion der Welt in den vergangenen Wochen ihre diesjährige Weinblüte. Die „Bruderschaften“ der bekanntesten Lagen organisierten die üblichen Gelage unter freiem Himmel, nahmen neue Ehrenmitglieder als „Weinbotschafter“ auf und prosteten sich gegenseitig Mut für die diesjährige Lese zu.

Die kleinen grünlich-weißen Blüten „dufteten köstlich“, schwärmen Winzer, die Anfang Juni im Morgengrauen, wenn das Aroma am stärksten ist, zwischen den Rebstöcken spazierten. Knapp drei Monate vor der Traubenreife deuten dieser Duft so wie das Sonnenwetter auf ein neues Rekordjahr hin. Genau wie 1995, als die Liebhaber – die ausländischen zumal – den „Bordeaux Primeur“ zu zuvor ungekannten Phantasiepreisen erstanden.

Im Gegensatz zum „Beaujolais Primeur“ ist der aus dem Bordeaux stammende Primeur ein Spekulationsobjekt ohne unmittelbare Gaumenfreude: Noch während er auf den Fässern reift – das dauert im Bordelais an die zwei Jahre – wird ein Teil des Weinkontingents verkauft. Die „Vorzugspreise“, die die frühen Kunden der Letztjahrslese dabei zahlen mußten, gelten manchen Kennern inzwischen als restlos überhöht. „Der 94er“, verrät ein Winzersohn, „wird uns vermutlich noch erfreuen, wenn der 95er längst vergessen ist.“

Aus anderen Gründen freilich wird das „Rekordjahr“ den Winzern noch lange in Erinnerung bleiben: 1995 fand der weltweite Frankreichboykott statt, der Luxusgüter wie Wein und Champagner empfindlich schädigte. Zwar stieg der Bordeaux-Wein-Export 1995 insgesamt – so importierte allein Deutschland 80.000 Hektoliter mehr als im Vorjahr –, doch dafür brachen die neuen Wachstumsmärkte tief ein.

Besonders die kleinen Länder, die selbst keinen Wein produzieren, aber seit einigen Jahren zu immer wichtigeren Konsumenten geworden sind, ließen die Bordelaiser Winzer für die Atompolitik ihres Präsidenten büßen: Dänemark, Belgien und Luxemburg und die Niederlande kauften entschieden weniger bei ihnen ein und statteten sich statt dessen mit Weinen von der australischen, südafrikanischen und amerikanischen Konkurrenz aus. Aufträge im Wert von rund 200 Millionen Francs (etwa 60 Millionen Mark) sind dem Bordeaux auf diese Art durch die Lappen gegangen.

Kleine Länder sorgen für Absatzschwund

Den Absatzschwund spüren auch die großen Weingüter des Médoc – selbst wenn die ChÛteaux auf dem weiten flachen Land nördlich von Bordeaux zum Besteingeführten gehören, was die Branche zu bieten hat. Bereits im letzten Jahrhundert schufen sie für die Weltausstellung eine Klassifizierung ihrer Weine, an der es seither nur eine einzige Änderung gegeben hat: Das war 1973, als der „ChÛteau Mouton-Rothschild“ vom Rang eines „Second Cru“ in die erste Klasse – „Premier Cru classé“ – befördert wurde.

Beim diesjährigen Weinblütenfest auf ChÛteau Lanessan im Médoc ist von der Krise nichts zu spüren. Dutzende von Kellermeistern in schwarzen Schürzen schenken den 700 Gästen kostbare Rotweine aus den 70er Jahren aus. Pferdegespanne aus dem vergangenen Jahrhundert drehen auf der Wiese zwischen Festzelt und Schloß die Runde. Und Premierminister Alain Juppé, in Personalunion Bürgermeister von Bordeaux, beweist mit einer launigen Ansprache, daß er sich auch für Wein interessiert.

Gegenüber auf der anderen Seite der Gironde-Flusses feiert Saint-Emilion in kleinerem Kreis seine Weinblüte. Die örtliche Bruderschaft „Jurade“ verweist bei einer Zeremonie im ehemaligen Klosterhof stolz auf ihre 900jährige Existenz. Die „Jurade“ selbst ist bis heute zwar ein reiner Männerbund geblieben, aber als Ehrenmitglieder und „Weinbotschafterinnen“ sind ihr auch Frauen genehm. In diesem Jahr inthronisiert sie neben den kanadischen Ex-Premierminister Trudeau eine Psychotherapeutin, eine Weinhändlerin und zahlreiche Sportler und Schauspieler aus aller Welt. Ausgestattet mit einer Medaille und einer Urkunde, schwören die neuen Ehrenbotschafter, daß sie fürderhin für die Mehrung des Ruhms des örtlichen Weines eintreten werden.

Bei der anschließenden Festtafel, wo zu jedem Gang drei verschiedene Rotweine serviert werden, beweisen gestandene Winzer und Ehrenbotschafter, was sie von der Sache verstehen. Ganz kurz nur nippen sie an ihren Gläsern, bevor sie den Wein in Metalleimer auf der Tischmitte schütten. Erst als ihnen beim vierten Gang die Spitzenweine des Saint-Emilion serviert werden, trinken sie ihre Gläser aus.

Chanel und Dassault machen nun in Wein

Die Winzerreden über die Sonne, den Regen und den Blütenduft können nicht darüber hinwegtäuschen, daß längst nicht mehr alle ChÛteau-Besitzer des Bordeaux für ihren Wein selbst verantwortlich sind. Viele alteingesessene Familien sind in die Großstadt übergesiedelt, wo ihre Kinder zur Schule gehen. Andere haben ihr Weingut verkauft, um die Erbfrage zu regeln. So gelangten der Flugzeughersteller Dassault, der Parfumkonzern Chanel und der Versicherer Axa in den Bordeaux.

Weinanbau und -kellerei sind mit den Jahren immer komplizierter geworden. Die Betreuung der Produktion liegt heute in den Händen von Profis, darunter zahlreiche Abgänger der önologischen Fakultät der Universität Bordeaux. Sie probieren am Rebstock neue Erntetechniken und im Keller neue Lagermaterialien aus. Sie verfolgen die Pflanze über die Jahreszeiten, entscheiden über das Mischungsverhältnis der Rebsorten beim Verschnitt, messen den Zuckergehalt der reifen Traube und organisieren die „Chaptalisierung“ genannte Zuckerbeigabe. Und noch bevor der Saft in den Fässern gelandet ist, wo er Jahre verbringen wird, schaltet sich die nächste Branche ein – die Makler und Händler aus aller Welt. Dorothea Hahn