Wirrer Faltenwurf

Detlef Opitz' Luther-Roman: Erzählstrategien, mit denen man sich einst der Repression der DDR entzog  ■ Von Guido Graf

„Getränkt an den Brüsten der Klio“, hat Detlef Opitz verstanden, diese Muse sich gefügig zu machen. Möglicherweise ist er auch nur ganz von ihr eingenommen. Klios Unzuverlässigkeit findet hier jedenfalls, wenn man sich das überhaupt so vorstellen kann, vollkommene Darstellung. Der Muse der Geschichte nicht nur eine Geschichte, sondern Hunderte zu erzählen, wie Opitz, verlangt gewissen Mut.

Vielleicht reicht auch ein Maß an Indifferenz, die das, was sie übertrumpft, nur eben so weit achtet, wie es der Fortsetzung des Erzählens dienlich ist. Daß längst ein Erzähltwerden, eine Bauchrednerei daraus geworden sein könnte, tut dem offenbar keinerlei Abbruch. Dieser „Wirbel um L.“, sei damit das umgekehrte Füllhorn Leumull oder der große Unbekannte Luther gemeint, ist Manie. Anders kann es wohl nicht sein, gewesen sein.

Die Berufung auf die Muse Klio hat Tradition seit Herodot, der erzählte, „auf daß nicht mit der Zeit vergehe, was von Menschen geschah“, von Anfang an und auf Vollständigkeit bedacht. Bei Arno Schmidt hört Düsterhenn im Klio- Abschnitt des „Caliban“ dagegen, „immer gans gerne hin“, wenn Geschichten umherschwirren, von der Muse leichtfertig verstreut und nur schwer auszumachen, was davon zu gebrauchen ist. Mindestens so viele Gestalten wie bei Herodot finden auch bei Opitz Erwähnung, und das auf erheblich weniger Seiten. So kraus und quer es auch dahingeht, schleicht sich fadendünn, aber unausweichlich die Ahnung ein, daß bei all den flott und grob und witzverkohlt geschnitzten Geschichten über Luther immer noch etwas anderes erzählt wird, für das keinesfalls Klio mehr verantwortlich gemacht werden kann.

Opitz hört nicht hin, sein Erzähler auch nicht, wenn, dann nur sehr unwillentlich, er hat schließlich exzerpiert und die Echos dieser Anstrengungen hallen in dichter Folge durch das Buch. Die Lektüre läßt sich nur in unvereinbaren Metaphern und hinkenden Vergleichen nachzeichnen – als Wirbel, Geschwirre, Geflimmer. Allzu leicht stellt sich etwas wie Geblendetsein in der Lektüre ein. Aber dieser Effekt ist wohl planvoller Bestand von Opitz' Romankonzeption. Daß dazwischen immer noch etwas anderes steht, das zur Geschichte einer Ichaufgliederung gehört, zeigt sich bei erneuter Lektüre. „Der Wahnsinn liegt auf der Hand.“ Zum Gelungensten dieses Romans gehört die Kunstfertigkeit, mit der dieser Fall maskiert wird. Falsche Fährten legt Opitz genug, die Durchkreuzung des politischen Diskurses mit einem komplexen Verweissystem gelehrter Anekdoten fingiert ein unterhaltsames Spiel.

Was ist mit Leumull? Irgendwann, so soll es scheinen, geht er verloren. Ziemlich genau in der Mitte des Buches. Erst einmal könnte er als jemand scheinen, der gut von einem selbst zu anderen redet, der hier bei Opitz aber wie in Mull verstummt ist, möglicherweise zu verstummen hat, um sich bei Bedarf jedenfalls nur noch auf seine Zuhörerschaft berufen zu können. Da ist einer gewesen. Doch das allein reicht nicht aus. Seine Motivationen werden nicht aufgedeckt, und das nicht, weil es einen über alle Fäden mächtigen Erzähler gäbe, dem eben dieser eine verlorengegangen wäre.

Leumull ist präsent, als Negativform, als Antrieb, der in den Falten eines verwüsteten Luther–Enzyklopädikums kauert und beharrlich durch seine Anwesenheit und noch in ihrem bloßen Nachscheinen ausplaudern läßt, was niemand behaupten würde, verbergen zu können – und doch tut: sich selbst als der, der er sein soll. Und gerade in solchen Unterhaltungen fällt sich Leumulls findsamer Widerpart ständig ins Wort, mit Geschichten, Anekdoten, Annotaten und Wortgeklingel. Gerade weil er Sprachmusik so gering schätzt, bildet sie das Zentrum seiner Bemühungen. Die Schrift und ihre Verdornung, ob Zierat oder Hindernis, geben den Halt, der nötig ist, um ein Vanitas-umwölktes Pandämonium einer zur Luther-Zeit geronnenen Historie aus Histörchen zu entwerfen. Zwischendurch verkündet der mit Belesenheit geschlagene Erzähler, die „Not & Pein“, in der er vorgab zu stecken, sei übertrieben und nur dazu gedacht gewesen, Leumull zum Zuhörer „aufzubauen“, der glauben soll, was man ihm erzählt.

Dem Leser gegenüber wird diese Projektion über allerlei unterhaltsame Verschleierungen hin aufrechterhalten. Wenn Doktor Leumull nach etlichen Seiten ganz verschwindet, soll die Irritation der tatsächlichen Gründe für seine Anwesenheit versenkt werden. Denn es scheint doch Leumulls Beruf zu sein, zuzuhören und das gerade nicht zu glauben, sondern so zu verstehen, wie es – nun ist das Thema eben Luther – vielleicht eine (sinnvolle?) Geschichte über den ergibt, der erzählt. Die scheinbar enthemmte Stimme der Muse Klio wird so zum potentiellen Objekt sowohl von Psychiatrie als auch Geheimpolizei. Der einzige jedoch, der denunziert wird, ist der Erzähler selbst. Möglicherweise ist Leumulls Verschwinden auch mit der wachsenden Erkenntnis zu erklären, daß dieses vergnügliche Bild einer erzählerischen und psychischen Dekomposition zugleich, wie Opitz es malt, für des Doktors Interessen keinen Nutzen bringt.

Leumull, auch das soll unterwegs verlorengehen, ist der Anlaß für die wuchernden Erzählungen. Es ist von einer „Freundschaft“ die Rede, die installiert wird wie ein Programm. Nichts weniger als das ist sie wohl auch. Der Doktor wird im Prolog gefragt, ob er Krankheit oder gar Geistesschwäche bei ihm, dem Erzähler, feststellen müsse. Die Entgegnung Leumulls, er könne das am „allerwenigsten“ glauben, verspricht nichts Gutes. Daß der so vorweggenommene Zweck der folgenden Erzählungen als Diagnose daherkommt, deutet nicht nur auf Therapiegespräche hin. Im Luther-Eingemeindungsstaat DDR war der Alltag genausowenig Verhör wie die alltäglichen Verhöre und Belauschungen einfach nur Verhöre und Belauschungen.

Vielleicht liefert Opitz auch ein Bild der Virtuosität der Strategien, mit denen man sich dem Zugriff der ebenso vielgestaltigen, direkten und indirekten Formen staatlicher Repression entzog oder glaubte, sich entziehen zu können. In den Geschichten als Falten der Geschichte sollte sich's leben lassen. Nur wer war, wer ist für den Faltenwurf verantwortlich?

Detlef Opitz: „Klio, ein Wirbel um L.“ Roman. Steidl Verlag 1996, 480 Seiten, geb., 49,80 DM