■ Hundert(undein) Jahre Psychoanalyse
: Vom Traum zum Alptraum

Kommt die Rede auf die Psychoanalyse und ihren Urvater Sigmund Freud, bricht heftige Erregung aus. Schon über das Alter dieser Wissenschaft läßt sich Einigkeit schwer herstellen. Unbestreitbar ist allenfalls, daß Freud 1896, vor hundert Jahren also, erstmals in einem Essay den Begriff „Psychoanalyse“ verwendete. Dies konnte aber die geistigen Erben des Wiener Doktors nicht davon abhalten, schon im Sommer des Vorjahrs am Kahlenberg bei Wien ein kleines Fest zu feiern. Dort hatte Freud nämlich einen Traum, der als „Irmas Traum“ in die Geschichte einging; dieser stand am Ausgangspunkt der Selbstanalyse Freuds und später im Zentrum seiner „Traumdeutung“.

Freilich sind dies eher die randständigen Differenzen, die sich auftun, ist von Freud die Rede. Erst kürzlich sorgte ein Psychologenteam für Aufsehen, das in aufwendiger Forschungsarbeit einige hundert Mädels und Buben befragte, ob sie denn Papi und Mami gleich liebhätten, keine signifikaten Unterschiede feststellen konnte und uns mit der Nachricht überraschte, Freuds Theorie vom Ödipuskomplex sei somit falsifiziert. Damit ist auch schon den Anwürfen, die vor allem aus Übersee kommen und im Umfeld der feministischen Theorie angesiedelt sind, Genüge getan, die Freuds „männliche Perspektive“ bekämpfen. Diese Kritiken verbinden sich mit jenen aus dem Milieu der „Kinderschützer“, denen Freud als politisch inkorrekt gilt, da jemand, dessen Theorie ein Motiv „kindlicher Sexualität“ enthalte, dem Kindesmißbrauch Vorschub leiste. Ernster zu nehmen ist da schon jene ebenfalls aus feministischer Perspektive formulierte Kritik, die einwendet, angesichts einer durch Geschlecht, Rasse, Klasse und sexuelle Orientierung vielfach bedingten und gebrochenen Subjektivität lasse sich so etwas wie ein freudianisches „Ich“ gar nicht mehr ausmachen.

Doch das eigentlich Bemerkenswerte an all diesem Für und Wider ist, daß die naheliegendste Frage gar nicht mehr aufgeworfen wird, weder von Kritikern noch den Verteidigern: ob denn die Psychoanalyse, die ja immer mehr war als bloße Technik zur Gesundung von Neurotikern und Psychotikern, nämlich Kultur- und Ideologie-Theorie, uns heute noch etwas zu sagen hat.

Betrachten wir also, wider alle Biographenmode, die das Werk durch den Lebensweg zu diskreditieren (oder, indem sie es der „jüdischen Tradition“ zuschlägt, zu partikularisieren) versucht, Freuds Wende vom euphorischen Aufklärer zum skeptisch-pessimistischen Konservativen, seine Des-Illusionierung, als Signum der Moderne. Ein solcher Blick könnte unsere eigene Desillusionierung erhellen.

„Die Zukunft einer Illusion“ hieß die fortschrittsfrohe Schrift Freuds aus dem Jahr 1927. Darin analysiert er die Religion als Illusion im Unterschied zum Irrtum. Illusionen seien „Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche“. Dies seien also Leidenschaften, gegen welche „Argumente nichts vermögen“. Hierin gründet die Aporie aller Aufklärung: Wenn der psychische Apparat des Menschen Gefangener der Vergangenheit ist, worauf basiert dann die zukunftsfrohe Hoffnung, wie Neurosen heilbar seien auch Illusionen aufklärbar? 1927 jedenfalls versucht Freud, ganz Kind des aufklärerischen 19. Jahrhunderts, noch mit der Rationalität des Psychoanalytikers die Irrationalitäten über sich selbst aufzuklären.

Drei Jahre später ist Freud schon skeptischer. In „Das Unbehagen an der Kultur“ deutet er den Menschen als notwendig triebhaftes und somit aggressives Wesen, nur durch die Kulturentwicklung in jenen Schranken gehalten, die dieser permanent niederreißen möchte, da das Stück Sicherheit durch ein Stück Glück erkauft ist. In den letzten Lebenstagen liegt aller Ton auf der „archaischen Erbschaft“.

Das Bedürfnis nach Schutz und Verheißung scheint nunmehr nicht mehr aufklärbar. „Auch in der Masse bleibt der Eindruck der Vergangenheit in unbewußten Erinnerungsspuren erhalten“, heißt es in Freuds Altersschrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“. Das Verdrängte kehrt wieder, und sei es nur in der entstellten Form, als Symptom.

Sind wir, angesichts dessen, nicht Zeugen einer paradoxen Volte der Geschichte? Heute verkündet man uns das „Ende der Geschichte“, das Zukunftspathos der Aufklärung verdünnt sich in das neoliberale Rinnsal, wonach die Leidenschaften perdu seien und anstelle dieser die Vernunft der globalen Marktwirtschaft walte, die keine Fesseln der Vergangenheit mehr kenne, sondern bloß noch das „Diktat der Wirklichkeit“ (Robert Leicht). Man verkündet uns die illusionslose Gegenwart, in der wir wunschlos, weil in der besten aller Welten, lebten.

Selbst ein so brillanter Historiker wie François Furet nennt seine Monographie über dieses Jahrhundert der Leidenschaften im allgemeinen, über den Kommunismus im besonderen „Le passe d'une illusion“ (der deutsche Titel „Ende der Illusion“ müßte demnach korrekt „Die Vergangenheit einer Illusion“ heißen), er öffnet also einen Blick, der sich vernünftigerweise nur aus einer illusionslosen Gegenwart zurückwerfen läßt. Hat also der frühe Freud doch gegen den alten recht behalten? Dies ist schwer zu glauben, vor allem aber, wie wir sehen müssen, auch gar nicht mehr zu hoffen.

Denn die Rede vom Ende der Illusionen, der Ideologien, vom Ende der Geschichte ist selbst eine Illusion, jedoch eine paradoxe, weil sie nichts mehr zu verheißen vermag. Nach dem Tod Gottes wurde die Verheißung in die Geschichte gespiegelt, in der sich der Fortschritt vollziehen sollte. Diese Illusion ist nun blamiert. Doch mit Freud wird man skeptisch, ob ein solcher Zustand lange haltbar sein kann. Furet hat hellsichtig genug angemerkt, aus der Geschichte sei nunmehr wieder ein Tunnel geworden, „der den Menschen mit Dunkelheit umgibt“: eine Angst, die es zu beschwichtigen gilt. So entpuppt sich Freuds aufklärerischer Traum, scheinbar wahr geworden, als Alptraum. Die Frage, nach Freud, ist also: Kündigt das die nächste Illusion an, die, wie der Traum selbst, wieder eine Wunscherfüllung wäre? Dies scheint die Frage an das nächste Jahrhundert. Nicht nur, aber auch an das der Psychoanalyse. Robert Misik