Hamburg, virtuell

Cyber-Demos, Datenschleichwege, Netz-PiratInnen – „Ein Besuch in Utopia“: Dritter Teil der taz-Serie über die schöne neue Weltstadt Hamburg  ■ Von Ulrike Winkelmann

ngo Kleist, altgedienter SPD-Bürgerschaftsabgeordneter,streicht sich die schweißnassen Strähnen aus der Stirn. Mit seiner Eingabe in der Bürgerschaft zur Immunität von Polizeibeamten ist er auf mehr Widerstand gestoßen als erwartet.

Die automatische Reaktionsauswertung seiner Mailbox zählt 2 000 bitterböse Briefe von HamburgerInnen, die ihm, Kleist, mitteilen, daß sie die gesamte Netz-Gemeinde gegen seinen jüngsten Vorstoß, die Methoden von PolizistInnen für sakrosankt zu erklären, mobilisieren und Cyber-Demos organisieren werden.

Darüber hinaus haben die Netz-PiratInnen von L.I.N.X. (Libertäre Internationale Netzgeneration XXX) schon wieder seine Homepage zerstört. Wer sich jetzt die Kleist'sche Selbstdarstellung anschauen will, dem grinst vom Monitor der L.I.N.X.-Totenkopf entgegen. „Ingo Kleist ist wegen der Produktion von deutschnationaler männerbündelnder Propaganda nach Bayern abgeschoben worden“, steht in einer pulsierenden Sprechblase.

Kleist hat die Nase voll von den digitalen Spielereien. Seitdem allen BürgerInnen der Stadt eine Multimedia-Grundausrüstung mit Rechner, Telefon- und Internetanschluß zusteht, muß er sich manches gefallen lassen. Vorbei die Zeiten, als man sich die RedakteurInnen der Hamburger Medien beim gepflegten Bier im Rathaus-Keller verpflichten konnte und auf diese Weise die Meinungsmache von langer Hand mitsteuerte.

Vor dreizehn Jahren, 1997, wurden alle staatlichen Organisationen gesetzlich verpflichtet, ihre Konzepte und Programme ins Netz einzuspeisen. Verblüffenderweise reagierte ein Großteil der Hamburger Bevölkerung prompt; hunderte bislang scheinbar taubstumme KonsumentInnen gingen dazu über, sich täglich an den Netzdebatten über Streichung der Studiengebühren, Zulassung des motorisierten Individual-Verkehrs auf innerstädtischen Fahrrad-Highways und Legalisierung der Immobilienmakelei zu beteiligen.

Organisationen bildeten sich, die sich mit Interessengruppen weltweit austauschten und über den Kontakt zu RegimegegnerInnen ein politisches Profil entwickelten, das man seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrtausends für überaltert gehalten hatte. Es mußte etwas damit zu tun haben, daß die Massen von Arbeitslosen und Kurzarbeitenden sich nicht mehr in apathischer Unzufriedenheit halten ließen.

Der Umgang mit den elektronischen Netzen war schon lange kinderleicht, so daß selbst Technikscheue nun ihre Zeit in der Virtuellen Realität verbrachten. Entgegen allen Prognosen aus den Anfangszeiten der damals „Neuen“ Medien versanken die 85 nichts-habenden Prozent der Bevölkerung jedoch nicht in den anonymen Weiten des Cyberspace.

Im Gegenteil: Sie nutzten die Datenautobahnen und -schleichwege, um sich gegenseitig über Korruptionsaffärenund Interessengeflechte von Großindustriellen und der politischen Kaste in Kenntnis zu setzen. Besonders auf den zum Gemeinplatz gewordenen SPD-Filz hatten es die BewohnerInnen der „Virtuellen Stadt“, wie man das politische Datenkonglomerat, die Diskussionsforen, Hyper- und Intertexte zu Hamburger Themen bald nannte, abgesehen.

Alle Versuche der Justiz seit 1996, den freien Austausch von linken, alternativen, subversiven Ideen durch Zensur zu beschränken, scheiterten an der Findigkeit der anarchistischen Computer-ExpertInnen-Clubs. Der Chaos Computer Club, L.I.N.X., das FemInTrib (Feministisches Internet Tribunal) und viele andere Hacker und Cracker entwickelten immer neue Verschlüsselungssysteme und Wege, um dem Zugriff der Informationskontrollbehörde zu entgehen. Über die Netz-Gemeinde gründeten sich Fonds zur Bestreitung von Zensurprozeßkosten.

Altgediente PolitikerInnen wie Kleist hatten es gleich geahnt, daß der ganze amerikanische Quatsch mit den „Informationsautobahnen“ nur Unheil bringen würde. 1996, als die Stadt Hamburg ihre ersten Schritte ins Datennetz tat und ein paar peinlich unbeholfene Seiten einrichtete, wußte er, daß seine Generation ausgedient hatte. Politische Entscheidungen würden von jüngeren, an den schnellen Schritt der Informationsgesellschaft gewöhnten Menschen mitbeeinflußt werden, die weniger Pfründe zu verlieren hatten und mehr Mutwillen aufbrachten.

Es dauerte nicht lange, und bald war ein großer Teil der Herrenriege des Rathauses lahmgelegt. Zusammen mit Kleist hatten nur die wirklich reichen Funktionäre überlebt. Politik wurde nun von FantastInnen und VisionärInnen gemacht, die pausenlos in der virtuellen wie in der realen Stadt neue Räume zauberten, in denen Utopien des Zusammenlebens vorgestellt und von vielen anderen verhackstückt wurden.

Besonders die vielen Öko-Banden, eine der stärksten Netz-Lobbys, konkurrierten untereinander um Geltung und Beachtung. Sie hatten einen entscheidenden Vorteil der elektronischen Medien erkannt und wollten ihn weiter ausbauen: Durch den computerisierten Datenverkehr war für die Stadtbevölkerung ein großer Teil ihrer täglichen Wege überflüssig geworden.

Einschüchternde Behördengänge entfielen, Banken und Sparkassen waren keine Streß- und Angstorte mehr für die Verschuldeten und Unbegüterten, sondern bestanden aus einer Homepage im Netz, durch die man sich in Windeseile hindurchklicken und selbstverständlich und -bewußt alle Dienste in Anspruch nehmen konnte.

Da in der realen Stadt außer einzukaufen kaum noch „Erledigungen“ anstanden, bewegten sich die Menschen wesentlich gelassener und hatten es nicht mehr nötig, sich in ihren Autos zu verschanzen. An Tagen, da man ohne die UV-Schutzhaut hinausdurfte, lösten sich die Leute gerne von ihren Rechnern, um den Klein- und Videokunstvorführungen auf den Straßen zuzusehen.

Alles, alles hatte die herrschende Kaste des vergangenen Jahrtausends unternommen, um die Bevölkerung in ständiger Angst um ihren Besitzstand zu halten und ihr einzureden, daß es nichts wichtigeres gebe als das eigene Heim und Auto. Und dann zogen die Cyberheldinnen und -jünger einfach am Staatsapparat vorbei, eroberten die digitalen Räume, schafften Fakten.

Kleist schnaubt. Da, jetzt fängt der L.I.N.X.-Totenkopf auf seinem Monitor an zu tanzen und verwandelt sich in einen Ochsen mit verdrehten Augen. Ein Schriftzug blinkt auf: „Wer Kleists Homepage lesen will, kriegt Rinderwahn! Nur alte Männer mit Sitzschwielen essen Fleisch! Eure TBC (TierbefreierInnen im Cyberspace).“

Sie würden ihn noch ins Grab bringen.