: Eine Million Flaschen
■ Bei der Eröffnungsfeier der "Jahrhundertspiele" gerät der Einmarsch der über 10.000 AthletInnen zum "Viehauftrieb"
Atlanta (taz) – Ein Bild für die olympischen Götter sollte es sein. Die bunt geschürzten Sportler der Welt, aufgestellt zum Gruppenbild auf blauem Nylon aus Lyon, in froher Erwartung der Flamme. Werbetechnisch war wieder nichts an Rekordverdächtigem ausgelassen worden: Das größte je produzierte Flächentuch bedeckte den Rasen des Olympiastadions, 322 Leute kümmerten sich um das rechte Licht zur Eröffnung, die Mitarbeiter hatten im Laufe der Vorbereitung mehr als eine Million Flaschen Wasser getrunken. Alles großartig. Und dann kamen die Athleten. „Here they are“, sagte die sonore Stadionstimme, „die größte Zahl Athleten, die jemals an Olympischen Spielen teilgenommen hat.“ Ein Rekord mehr in Atlanta, wo insgesamt mehr als 10.000 Starter gemeldet sind.
Wenig rekordverdächtig scheint dem deutschen Chef de Mission, Ulrich Feldhoff, da schon die Sorge der Organisatoren um das Wohlergehen der Jugend der Welt. Dem fröhlichen Einmarsch, vorbei an der Ehrentribüne, war eine neue olympische Disziplin vorausgegangen: der „600-Meter- Einmarschsprint“, wie Feldhoff ihn nannte. Vom benachbarten Baseballstadion, wo die Athleten schattig und bestens versorgt in aller Gemütlichkeit auf ihren Auftritt gewartet hatten, wurden sie „viel zu spät“ von ihren Sitzen gerissen und „unter massiver Anschreierei“ im Laufschritt rüber ins Olympiastadion gescheucht. Die Organisation sei total zusammengebrochen. „Es fehlte nur noch die Peitsche, und der Viehauftrieb wäre perfekt gewesen“, sagte Feldhoff. Die letzten deutschen Olympioniken konnten, einen guten halben Kilometer entfernt, noch auf der Großbildleinwand im Wartestand sehen, wie Fahnenträger Arnd Schmitt schon der Zielgeraden im Stadion entgegenstrebte.
„Eine Frechheit der Organisatoren“, zürnte der Chef de Mission. Trotz des Sprints kam Feldhoff nicht mehr rechtzeitig zum Stadion, drehte wie ein Drittel der deutschen Mannschaft um und sah ein halbes Dutzend Athleten aus anderen Ländern, die beim unkoordinierten Sturm auf die steile Rampe gestürzt waren und sich Platzwunden am Kopf zugezogen hatten. Vielleicht wird Atlanta der letzte Versuch gewesen sein, alle Olympiateilnehmer bei der Eröffnungsfeier ins Stadion zu schleusen. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) will die Zeremonie in Zukunft straffen. Mit dem in Atlanta mehr als anderthalb Stunden dauernden Einmarsch der Nationen sei jedenfalls weder den Athleten noch dem Publikum ein Gefallen getan, glaubt auch Walther Tröger, IOC-Mitglied und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland. Die Eröffnungspanne erklärt das Atlanta-Organisationskomitee ACOG mit „logistischen Problemen von einiger Proportion“. Vieles habe man zum ersten Mal gemacht. Die meisten Austragungsstädte sind eben olympische Anfänger.
Doch in Atlanta haben die Schwierigkeiten Methode und sich mittlerweile rumgesprochen. Die Ruderer sahen sich trotz der angekündigten perfekten Olympia-Organisation gezwungen, in den Sitzstreik zu treten, inklusive US- Mannschaft. Sie wollten nicht mehr stundenlang in brütender Sonne an den Trainingsstätten auf die Busse warten. Die deutschen Boxer beschweren sich, weil sie eine provinziell anmutende Auslosung hinter sich bringen mußten. „Kein olympisches Niveau“, konnte Bundestrainer Helmut Ranze dem Procedere attestieren, das so verworren verlief, daß anschließend falsche Paarungslisten in Umlauf waren. „Bei Landesmeisterschaften würde der Verantwortliche bei uns wegen so was gefeuert“, sagte Ranze. Auch die Fechter beklagen sich über den stockenden Transport. Für sie, wie für alle Olympioniken, gibt es auf Seite zwölf des Programms der Eröffnungszeremonie unter der Rubrik „Atlanta's welcome to the world“ ein Zeichen der Zuversicht: „Die Olympischen Spiele sind vor allem eine Feier der Jugend mit ihren schönsten Hoffnungen und Träumen von einer besseren Zukunft“. Ulrich Loke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen