: Mal gut, mal böse
Japaner haben die gleichen Moralvorstellungen wie Europäer – aber nicht immer ■ Von Martin Ebner
Ist Wirtschaftsspionage ein Verbrechen? Soll Euthanasie erlaubt werden? Derartige moralische Fragen werden in japanischen Zeitungen heftig diskutiert – kaum anders als in Europa. Die Antworten aber unterscheiden sich manchmal erheblich. Vielleicht ist das der Grund für die ständigen Konflikte zwischen Japan und seinen Handelspartnern und den wechselseitigen Vorwürfen? Über Handelsquoten ist ja vielleicht noch eine Einigung möglich – aber was tun, wenn die Völker grundlegend verschiedene Begriffe von Gut und Böse haben?
Makoto Kobayashi, Psychologe an der Universität Konstanz, wollte deshalb mehr über die unterschiedlichen Moralvorstellungen von Japanern und Deutschen wissen. Im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes, das von Professor Hiroshi Namiki an der Waseda-Universität in Tokio geleitet wird, ging er der Sache nach. Jeweils 40 Japanern und Deutschen legte er als „Reizmaterial“ sechs kurze Geschichten vor, die einen moralischen Konflikt enthalten. Dann fragte er die Versuchspersonen, wie sie die Fälle beurteilen.
Bei den Vorstudien hatte es Probleme gegeben, berichtet Kobayashi: „Die japanischen Probanden beklagten, daß sie nicht wissen, welche Meinung sie sagen sollen – ,tatamae‘, die offizielle Ansicht, oder ,honne‘, die ehrliche Privatmeinung.“ Bei den Deutschen sei der Unterschied zwischen der „Fassade“ und der „echten Stimme“ nicht so ausgeprägt, findet Kobayashi. Sicherheitshalber fragte er aber auch hier nach beiden Meinungen.
Für seinen Kulturvergleich verwendete Kobayashi empirische Methoden, die Ende der sechziger Jahre von der Harvard-Autorität Lawrence Kohlberg entwickelt worden waren und bis heute von US-Forschern genutzt werden. Allerdings rechnete Kobayashi fest damit, andere Ergebnisse zu erzielen als der amerikanische Professor. Kohlberg war damals zu dem Schluß gekommen, die Asiaten würden nur eine niedrigere moralische Entwicklungsstufe erreichen als die weißen US-Bürger.
Jetzt ist Kobayashi überzeugt, mit seinen Forschungsergebnissen Kohlbergs „ethnozentrisches Modell“ endlich widerlegen zu können. Im großen und ganzen gebe es nämlich „zwischen Deutschen und Japanern bei der moralischen Orientierung keine signifikanten Unterschiede“. Die Abweichungen sind nur gering – beispielsweise drücken Japaner bei Steuerhinterziehungen und Parteiskandalen eher ein Auge zu als die Deutschen. „Es sieht so aus, als ob die Japaner die schmutzige politische Realität eher in Kauf nehmen.“
In zwei Fällen allerdings sind die Auffassungen sehr unterschiedlich. Als Kobayashi wissen wollte, ob eine Mutter, die Selbstmord begeht, davor ihr eigenes Kind umbringen soll, meinte die Mehrheit der deutschen, das Kind habe ein individuelles Recht auf ein eigenes Leben. „Die Japaner dagegen sehen das Kind als Teil der Mutter an. Es wäre also grausamer, das Kind zu verlassen als es in den Tod mitzunehmen.“ Auch Wirtschaftsspionage wird verschieden beurteilt: Die Deutschen finden, daß Angestellte nicht für ihre Firma bei der Konkurrenz spionieren dürfen – das individuelle Gewissen sei wichtiger als der Profit des Unternehmens. „Die Japaner aber zeigen Verständnis für derartige Verbrechen – wenn sie nicht der persönlichen Bereicherung, sondern der Firma dienen.“ Kobayashis Interpretation: „In Europa werden Egoisten nicht so scharf verurteilt – sie haben einen größeren Spielraum. Für Japaner dagegen ist die soziale Verbindung zu anderen Menschen wichtiger. Sie denken eher für ihre Familie, ihre Firma, ihre jeweilige Gruppe mit und sehen sich als Teil des Ganzen.“
Klar ist nun, daß man solchen kulturellen Unterschieden mit Kohlbergs Schema der moralischen Entwicklungsstufen nicht gerecht wird. Wieso soll denn die individuelle Prinzipientreue moralisch „höher“ einzustufen sein als soziale Rücksichtnahme. „Außerdem unterscheiden sich die moralischen Urteile ja nicht generell – sondern hängen von der spezifischen Situation ab.“
Jetzt wüßte man zu gerne, wann genau es zu solchen „spezifischen Unterschieden“ kommt, wann mit Mißverständnissen und Konflikten zu rechnen ist. Hier aber muß Kobayashi noch passen: „Diese konkreten Probleme sind alle noch unbearbeitet.“ Das Forschungsprojekt der Waseda-Universität wird deshalb weitergeführt und auch auf andere Länder ausgedehnt werden. Die Sache mit der Moral ist eben vertrackter als in den Lehrbüchern steht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen