Das eigentliche Drama

Der WDR zeigt „Das Tor des Himmlischen Friedens“ – eine aufsehenerregende Rekonstruktion des Massakers vom Tiananmen 1989  ■ Von Dorothee Wenner

Das Fernsehbild von dem chinesischen Studenten, der sich im Frühjahr 1989 den herbeirollenden Panzern in den Weg stellte, gehört zu denen, die man nicht vergißt. Diese längst zum Emblem gewordene Szene wird in dem Dokumentarfilm „Das Tor des Himmlischen Friedens“ aber auch zu einem Symbol für die naive Berichterstattung der westlichen Medien.

Die in China aufgewachsene Filmemacherin Carma Hinton und ihr US-amerikanischer Lebensgefährte Richard Gordon haben sechs Jahre lang über 250 Stunden historisches Filmmaterial aus amerikanischen und chinesischen Archiven, aber auch Amateurvideos ausgewertet. Dabei entstand eine erschütternde Rekonstruktion der Ereignisse, die man, nachdem man diesen Film gesehen hat, vorerst sicher nicht wieder als „historisch“ zu den Akten legt.

„Die westlichen Nachrichtensender berichteten 1989 vom Tiananmen-Platz, als fände dort eine Art Woodstock statt, aber kein Chinese durfte bei Interviews einen Satz zu Ende sprechen oder eine Idee formulieren, alles war auf Slogans und Händeklatschen reduziert“, meint Carma Hinton.

Auf diese Weise entging den meisten Menschen das eigentliche Drama, das sich zwischen der Beerdigung des als liberal geltenden Genossen Hu Yaobang und dem Gorbatschow-Besuch in Peking abspielte. Unter den Studenten hatte sich nämlich bald eine rivalisierende Führungselite entwickelt. Mit dem Anwachsen der Menschenmassen – bis zu einer Million Menschen waren zeitweise auf dem Platz versammelt – entschied über alle Aktionen und Maßnahmen, wer von den Studentenführern die Gewalt über die Rundfunkstation auf dem Platz hatte.

Eine herausragende Rolle spielte die damals 23jährige „Oberbefehlshaberin“ Chai Ling, die auch in Hintons und Gordons Film die tragische Leitfigur ist. Tragisch, weil sie wie keine zweite den Todesmut der jungen Demonstranten verkörpert. Doch gepuscht von der emotional aufgeheizten Stimmung und der Präsenz internationaler Medien, mutiert Chai Ling innerhalb weniger Tage zu einer Führungspersönlichkeit, die mit dem Schicksal ihrer Gefolgschaft nicht minder brutal umgeht als die politischen Gegner im ZK. Das ist deswegen besonders prekär, weil Chai Ling sich selbst dessen bewußt war, wie sie Ende Mai 1989 unter Tränen einem US-Journalisten in einem völlig wahnsinnigen Interview gesteht – von dem sie annahm, es könnte ihr letztes gewesen sein.

Nun geht es im „Tor des Himmlischen Friedens“ aber keineswegs um eine „Entschuldigung“ derjenigen, die schließlich mit Maschinengewehren auf Unbewaffnete geschossen haben. Hinton und Gordon versuchen vielmehr, das Massaker aus der Perspektive der Vertreter des „Dritten Wegs“ darzustellen. Dazu gehören die etwas älteren Intellektuellen – Schriftsteller und Universitätsprofessoren –, die voller Sympathie und Bewunderung für den Mut der Jüngeren, aber zugleich auch entsetzt waren über die kindliche Irrationalität und die kommunistisch inspirierte Propaganda-Romantik mancher Studentenführer. Sie alle betonen, daß im Frühling 1989 viele, vielleicht einzigartige Gelegenheiten verpaßt worden sind. Durch die zurückgewiesenen Vermittlungsangebote der reformwilligen Kräfte sei es schließlich zu der blutigen Konfrontation gekommen. Hinton und Gordon stellen das Tiananmen-Massaker an das vorläufige, äußerst beunruhigende Ende einer jahrzehntelangen historischen Entwicklung, die sehr klug und elegant-beiläufig durch Filmszenen aus allen Genres – von der China- TV-Operette bis zu schwarzweißen Archivaufnahmen – miterzählt wird.

Die chinesischen Behörden haben in den vergangenen Monaten mit einigem Erfolg immer wieder versucht, die Aufführung des Films auf diversen internationalen Festivals zu verhindern – ein Grund mehr, sich die Ausstrahlung in West 3 (22.30 Uhr) auf keinen Fall entgehen zu lassen.