Hush Puppies im Waffenrock

„Allen voran steht unsere Mannheit“: Dieter Dorn bringt Botho Strauß' „Ithaka“ als „Übersetzung von Lektüre in Schauspiel“ an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung – Klassikerstarre und kleinere Lachsalven inklusive  ■ Von Jürgen Berger

Die Bühne ist ein Halbrund, das sich je nach Bedarf hermetisch verschließen oder mit hohen Öffnungen zu einer bogenförmige Säulenhalle verändern läßt. Im Zentrum steht bedeutungsvoll eine Gipsplastik der Athene, die plötzlich umstürzt und dann in Einzelteilen verstreut daliegt. Unter ihnen kommt leibhaftig die Göttin hervorgekrabbelt, betrachtet verwundert die Teile ihres Abbildes, sucht Knie, Schlüsselbein und Handgelenk und legt sie demonstrativ vorne auf die Bühne.

Botho Strauß' fragmentierte Frauen sind per Regiehand in das Stück eingeführt (siehe taz, 15. 7.), bevor sie tatsächlich kommen und gleichzeitig drei Nornen und den klassisch antiken Chor abgeben. Das Abbild der Göttin bleibt während des ganzen Abends verstreut in dieser Palasthalle liegen, deren Wucht so bleischwer lastet, daß das Spuren im Gemüt hinterlassen muß – auch bei Athenes Liebling Odysseus. Sobald er den Raum betreten hat, wird er nicht mehr sein können, wer er ist: ein alternder Gaukler, der eigentlich lieber dem Wein zuspricht als den Rambo spielt.

Inszeniert hat diese Eröffnung des zielstrebig als Jahrhundertwerk angelegten „Ithaka“ kein anderer als Dieter Dorn, der bis ins nächste Jahrtausend amtierende Chef der Münchner Kammerspiele. Folgen wird eine lange Textstrecke, hauptsächlich getragen vom Odysseus des Bruno Ganz, der zwischen hohem und lapidarem Ton, hohl tönender Altersweisheit und martialischem Gekeuche schwankt. Aber da ist zuerst noch Athene, gespielt von Sibylle Canonica, eine der bemerkenswertesten Kammerspiel- Schauspielerinnen. Sie ist eine kriegerische Göttin, wie man sich den jugendlichen Odysseus vorstellen könnte: blitzgescheit und leicht vom Gegenstand ihrer göttlichen Sorge zu begeistern.

Wenn sie spricht, erhält der Straußtext Bühnenlegitimation, was man von vielen Passagen der folgenden viereinhalb Stunden nicht sagen kann. „Ithaka“ ist ein Stück, bei dem lesend vielleicht noch Distanz herzustellen ist, das auf der Bühne aber zur Gratwanderung am Rande der Peinlichkeit werden kann. „Schweig mein Sohn. Richte den Blick auf die Arbeit. Auch wenn ein Gott den Raum mit dir teilt, mußt du das Nötigste selber verrichten“, solche Sätze muß der Ganzsche Odysseus gegen Ende seinem Sohn Telemach sagen. In den Kammerspielen breitet sich ein dunkler, endzeitlich dräuender Mantel über der Inszenierung aus, und dem Zuschauer bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder er verharrt in Klassikerstarre angesichts eines Klassikers, der keiner ist, oder er gibt dem Lachzwang nach, der ihn überfällt.

Liest man Homers Heimkehr- Gesänge parallel zu Strauß' Nachdichtung, fällt auf, daß Strauß sich zwar an die Geschichten und von Homer vorgegebenen Dialoge hält, dem Ganzen aber einen Ekelton beigibt, als stünde da permanent ein angewiderter Ankläger. Für die Bühne bedeutet das: Holt Bruno Ganz wiederholt zu einer der Ekeltiraden aus, kann man getrost auf Durchzug schalten und die Aufmerksamkeit darauf richten, daß Dieter Dorns Inszenierung häufig reiner Nachvollzug nach dem Motto „Augen zu und durch“ ist.

Das ist nicht immer so, in Teilen der ersten drei Akte („Die Ankunft“, „Haushalt der Freier“, „Die Narbe“) entscheidet Bruno Ganz das Glücksspiel für sich, hält er ironische Distanz und spielt den Odysseus als großen Geschichtengaukler, der immer wieder seine erfundenen Stories zum besten gibt, um sich schmunzelnd dabei zuzusehen. Wenn ihn dann allerdings die Wut über die Schweinereien im eigenen Palast überfällt, hat man zu einem wohl eher unfreiwillig komischen Mittel der Distanzierung gegriffen. Der Odysseus in Bettlergestalt steht dann häufig verwandelt mit enganliegendem Helm und müd-unwillig heruntergezogenen Mundwinkeln da. Bruno Ganz als erster Hush- Puppies-Terminator des deutschen Theaters.

Im wahrsten Sinne des Wortes schwerer hat es Gisela Stein, die sich als Gattin Penelope in den ersten Akten laut Strauß mit Schwabbelbauch und hängenden Brüsten im Sündenpfuhl wälzen muß. Erst wenn ihr Fettmehrwert von göttlicher Hand gezogen gen Bühnenolymp entschwebt und sie wieder die strahlende Herrscherin spielen darf – zwar immer noch kokett und lüstern, aber auch mit Gram im Gesicht –, kann sie zeigen, daß es eigentlich um Schauspiel gehen sollte. Als Speckberg dagegen und mit an den Innenseiten der Schenkel reibenden Händen war sie nicht mehr als eine ausgestopfte Figur.

Gänzlich mißlungen die Schar der Freier, die auf der denn doch engen Kammerspielbühne immer wie in einer sperrigen Massenchoreographie hingestellt wirkt. Und so stehen sie denn in ihren bunt-dekadenten Gewändern und in Gruppenpositur da, um kurz Text loszuwerden. Wenn bei ihrem ersten Auftritt zusammen mit den Mägden das von Strauß gegeißelte Bordell inszeniert werden müßte, läßt Dorn die Schar verklemmt mit dem Hinterteil wackeln, als hätte man frei nach Oswalt Kolle kurz Verruchtes inszenieren wollen.

Eigentlich können solche Szenen ersatzlos gestrichen werden, an den Kammerspielen allerdings wollte man sich wohl nicht eingestehen, daß man da ein in weiten Teilen schlichtweg schlechtes Stück auf die Bühne hievt. Und vielleicht hat man ja auch deshalb überdimensional Botho Strauß' Beteuerung ins Foyer gepinnt, „Ithaka“ sei lediglich „eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel“. Man nimmt das ebenso zur Kenntnis wie den im Programmheft beigefügten Zettel, der das Fachpublikum darauf hinweist, daß das Ganze wegen des großen Kritikerandrangs eine „Pressevorführung“ und die eigentliche Premiere erst morgen sei.

Da stutzt man allerdings doch einmal – darf man diese Kritik hier und jetzt überhaupt schreiben? Oder hätte man am Samstag noch einmal ins Theater gehen müssen, um das Schauspiel mit richtigen Zuschauern zu sehen? Und hätte man dann vielleicht darüber hinweggesehen, daß Stück und Inszenierung im vierten und fünften Akt („Der Bogen des Odysseus“, „Die Wiedererkennung. Der Vertrag“) völlig kippen? Der gramgebeugte Rächer Odysseus hat die hohen Racheworte zu sprechen und alle dekadenten Freier zu meucheln. Im Theater wird es dunkel, schwirren illuminierte Pfeile in Zeitlupe. Nun gerät es doch derart komisch, daß der abgefeimten Kritikerschar mitten in hochmögenden Sätzen immer wieder Lacher entschlüpfen. Bruno Ganz, und dafür gebührt ihm die Strauß-Solidaritätsmedaille der Saison, bringt das alles mit stoischem Gesicht hinter sich.

„Heute schreitest du an der Seite deines Vaters zum Angriff. Es droht uns ein hartes Gefecht. Nur die Besten bestehen den Kampf. Du weißt. Unser Geschlecht verträgt keine Schande. Überall auf der Welt gilt unsere Ehre. Allen voran steht unsere Mannheit, unsere Stärke, unser Heldenmut“, sagt Ganz, und Jens Harzer schaut als Telemach allerliebst und wie Klein-Robin, der bei Batman mitmachen darf.

Am Ende dann müssen die lüsternen Mägde aufräumen, bevor sie geprügelt und an den Waffenhaken aufgehängt werden. Und ganz am Ende sitzen Gisela Stein und Bruno Ganz nebeneinander. Ein altes Königspaar, zwei isolierte Individuen, die wohl nie mehr zueinanderfinden werden. Eine der wenigen Textstellen in „Ithaka“, für die es sich lohnt, ins Theater zu gehen. Und in München dann noch einmal nicht nur ein Hauch von Theater.

Botho Strauß: „Ithaka“. Regie: Dieter Dorn. Bühne, Kostüme: Jürgen Rose. Mit Bruno Ganz, Sibylle Canonica, Gisela Stein, Jens Harzer. Münchner Kammerspiele. Weitere Aufführungen: 24.–28. 7., 31. 7. und 1.–4. 8.