Ende der Obsession

■ Volkstümliches zwischen Villen: Vor Eltons Johns Haustür holt sich Radrennfahrerin Jeannie Longo 37jährig endlich Olympia-Gold

Atlanta (taz) – Die Straßen- Radrennen sind die einzigen wahrhaft volkstümlichen Ereignisse der Olympischen Spiele. Sie kommen sozusagen zu den Leuten nach Hause und sind absolut umsonst zu besichtigen. Dafür fährt allerdings auch nur alle zwanzig Minuten jemand vorbei, aber das immerhin achtmal.

Typischerweise finden die Rennen aber keineswegs dort statt, wo das gewöhnliche Volk haust, in den armen Vierteln Techwood, Summerville oder East Point etwa, sondern dort, wo die Leute wohnen, die sich auch Eintrittskarten leisten könnten, Elton John zum Beispiel wäre da zu nennen. Buckhead ist ein aufstrebender Außenbezirk mit den angesagtesten Discos, den elegantesten und größten Einkaufs-Malls, vielen Kneipen und Restaurants sowie dem regesten Nachtleben der Stadt. Insgesamt keine allzu schlechte Wahl.

Ob die Bewohner der edlen Villen im nahe dem Zielraum gelegenen Andrews Drive an einem Sonntag die Strecke des Frauen- Rennens aufsuchten, sei dahingestellt. Immerhin haben es nur wenige versäumt, US-Flaggen mit den Olympischen Ringen auf ihren Briefkasten zu pflanzen. Eher an der Strecke zu vermuten sind die Kunden der Wäscherei, die „mottenfeste Reinigung“ verspricht und in der profaneren Pharr Road liegt, oder die Stammgäste von Mc Tighe's Sport Bar, wo „quick cash“ beim Spiel verheißen wird.

Trotz der drohenden Regenwolken herrschte reger Betrieb hinter den Absperrgittern, und die Fahrerinnen fuhren fast ständig durch ein Jubelspalier. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer waren mit dem eigenen Rad und dazugehörigem Sturzhelm gekommen, einer sogar mit einem motorbetriebenen Kinderroller.

Die Klügsten hatten sich im Garten des Three Dollar Café unter das Verandadach gesetzt, betrachteten die vorbeirauschenden Radlerinnen bei Iced Tea und Taco-Chips, lauschten dem Sänger, der Neil-Young- und Counting-Crows-Balladen zur Gitarre trällerte, und waren fein raus, als der Regen losbrach.

Die Fahrerinnen weniger. „Ich hasse Regen“, sagte selbst die Siegerin Jeannie Longo, „er macht die Strecke gefährlich.“ Tatsächlich gab es einige Stürze. Der beste Weg, sich solch einem Malheur zu entziehen, ist die Flucht nach vorn. Das erkannte zuerst die Italienerin Imelda Chiappa. „Der Regen hat das Rennen kompliziert“, sagte sie später. „Ich fühlte mich gut, also griff ich an.“ Das war in der fünften von acht Runden.

Jeannie Longo, die in ihrer 17jährigen Karriere alles gewonnen hatte, außer Olympia-Gold, erblickte dies und spurtete flugs hinterher. Und als wiederum die Kanadierin Carla Hughes die Französin davonsausen sah, zögerte sie keine Sekunde: „Ich wußte, das ist der Ausreißversuch und dachte nur: hinterher.“

Bei der letzten Steigung ließ Longo auch ihre beiden Begleiterinnen „im Staub zurück“ (Hughes) und holte sich im vierten Versuch ihr erstes Olympia-Gold, „die Obsession ihres Lebens“, wie ein kolumbianischer Reporter in sein Mikro brüllte. Chiappa gewann Silber, Hughes Bronze und die Deutsche Vera Hohlfeld beim Spurt des Hauptfeldes den vierten Rang.

„Sehr befriedigend“, fand Jeannie Longo ihren Erfolg, zumal ihr diesen niemand mehr zugetraut habe. 37 ist sie; „zu alt“, habe es überall geheißen. „Ich hatte „nicht mal einen Sponsor“, sagte Longo. Wenn sie am 3. August nach Buckhead zurückkehrt, und dort auch noch das Zeitfahren gewinnt, wird sich vermutlich auch dieses Problem lösen. Matti Lieske