Blöd und impotent dank Plastik und PCB

Sie gefährden unsere Fruchtbarkeit und unsere Intelligenz: Hormonähnliche Chemikalien in Kunststoffverpackungen. Das behaupten die Autoren des in den USA hitzig diskutierten Ökobestsellers „Our Stolen Future“  ■ Von Matthias Urbach

Der gelbe Hydraulikkran ächzt. Für einen kurzen Moment scheint der Belugawal in der Luft zu schwimmen, als der Kran ihn in den Lastwagen hievt. Einige Stunden zuvor hatten Fischer den Wal vom Gewicht eines VW-Golfes bauchoben auf dem Lawrence- Fluß im kanadischen Quebec gefunden und ans Ufer geschleppt.

Im Lastwagen sitzt der Ökotoxologe Pierre Béland. Er bringt den Wal zur Autopsie nach Montreal in die Universität. Dort hat er schon einige Dutzend Wale mit merkwürdigen Krankheiten untersucht. Doch dieser Fund vom 31. Mai 1989 übertraf alles: Der Wal verfügte über zwei Eierstöcke, Gebärmutter und zwei Hoden – ein echter Zwitter.

Lange Zeit wurden solche Fälle von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Doch schon seit rund einem halben Jahrhundert beobachten Biologen immer wieder schwere Fruchtbarkeitsstörungen. Anfang der Fünfziger hörten Adler in Florida plötzlich auf, sich zu paaren – 80 Prozent waren steril geworden. 1967 stieg am nordamerikanischen Lake Michigan die Zahl der Fehlgeburten unter Zuchtnerzen dramatisch an. 1970 schlüpften in Lake Ontario nur noch ein Fünftel aller Silbermöwen, die Küken, die zur Welt kamen, waren oft verkrüppelt. In den achtziger Jahren verloren auch Alligatoren in einigen Seen Floridas ihre Fruchtbarkeit: Nur 18 Prozent aller Jungtiere schlüpften, mehr als die Hälfte der Männchen hatte winzige Penisse – ein Drittel bis zu halb so groß wie normal.

Lange Zeit brachte niemand diese Fälle zusammen. „Dann begann eine Wissenschaftlerin das Puzzle zusammenzufügen“, so heißt es in „Our Stolen Future“, dem im März in den USA erschienenen Ökobestseller der Ökologen Theo Colborn und John Peterson Myers. Dramatisch inszeniert hat es die Boston-Globe-Reporterin Dianne Dumanoski. Streckenweise liest das Buch sich wie ein Krimi.

Die puzzelnde Wissenschaftlerin ist die Autorin Theo Colborn selbst. Ihre These: Alle diese Fruchtbarkeitsprobleme lassen sich zurückführen auf eine Störung des Hormonhaushaltes der Tieres – ausgelöst durch Chemikalien, die im Körper ähnlich wirken wie das weibliche Hormon Östrogen. Dazu gehören vor allem das Pestizid DDT, Polychlorierte Biphenyle (PCB), Dioxine und Furane. Doch damit nicht genug. Auch Chemikalien, die bisher als unbedenklich galten, können den Hormonhaushalt empfindlich stören: Etwa Alkylphenole. Sie werden Kunststoffen wie Styropor, Polycarbonat und vor allem PVC beigefügt, um das Plastik haltbarer zu machen.

Hormonähnliche Stoffe finden sich in Verpackungen, Wasserrohren und Getränkeflaschen aus Kunststoff, ja sogar in Konservendosen, die oft von innen plastikversiegelt sind. So gelangen sie ins Essen und für die Autoren steht fest: Die Stoffe sind auch für den Menschen schädlich. Zum Beispiel hat sich die Menge des menschlichen Spermas in der Samenflüssigkeit seit 1938 weltweit um die Hälfte verringert. So die Forschungergebnisse von Niels Skakkebaeks, Mediziner an der Universität Kopenhagen. Er hat 61 Studien aus den USA, Europa, aber auch aus Indien, Nigeria und Brasilien zusammengetragen. Die Auswertung ergab, daß auch der Anteil des verkrüppelten und unbeweglichen Sperma ebenfalls zunehme.

Gleichzeitig diagnostizieren immer mehr Ärzte Krebs an Prostata und Busen. Brustkrebs ist in Amerika inzwischen die häufigste Todesursache von Frauen zwischen 40 und 55 Jahren. Heute erkranken daran mehr als doppelt so viele Frauen wie noch vor 50 Jahren. Bisher galt ein hoher Östrogenspiegel als krebsfördernd. Sind hormonähnliche Chemikalien also die Ursache?

Während einige Ökologen schon vom Sieg der Umweltbewegung sprechen, davon, daß viele große Gefahren abgewendet seien, hat „Our Stolen Future“ in den USA eine neue und hitzige Debatte ausgelöst: Greenpeace nahm den Ökokrimi zum Anlaß für eine Kampagne gegen PVC. Nach dem Vorsorgeprinzip will der Umweltriese diesen weltweit am zweithäufigsten genutzten Kunststoff verbieten lassen. Das konservative Competitive Enterprise Institute attackierte dagegen das Buch bereits in zwei Broschüren. Gegenwind kommt auch von Amerikas chemischer Industrie. Aber die US-Umweltbehörde setzte hormonnachahmende Chemikalien auf die Spitze ihrer Prioritätenliste und die National Academy of Science hat ein Komitee zur Risikenabschätzung eingesetzt. Selbst die europäische Gesellschaft der Kunststoffhersteller will das Phänomen jetzt näher untersuchen.

Seinen Erfolg verdankt „Our Stolen Future“ dem Einsatz von US-Vizepräsident Al Gore. Er schrieb auch das Vorwort. Darin mißt er den Ergebnissen der Autoren eine ähnliche Bedeutung bei, wie der Entdeckung von Ozonloch und Klimakatastrophe. Gore vergleicht das Buch mit Rachel Carsons Klassiker „Silent Spring“. Dieses Werk wies erstmals auf die Gefahren von Pestiziden wie DDT hin und gilt in den USA als Wegbereiter der Umweltbewegung. „,Our Stolen Future‘ ist ein entscheidend wichtiges Buch, das uns zwingt, neue Fragen zu stellen über die Chemikalien, die wir über die Erde verbreitet haben“, schreibt der Vizepräsident. „Für das Heil unserer Kinder und Enkel müssen wir dringend die Antworten suchen.“ Man stelle sich ein ähnliches Vorwort von einem deutschen Minister vor.

Theo Colborn kann solche Unterstützung gut brauchen. Geht es ihr doch darum, gleich mit mehreren Paradigmen zu brechen, die den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb beherrschen. Da ist zunächst das „Krebsparadigma“, wie sie es nennt: „Für die vergangenen drei Jahrzehnte, war das Wort ,giftige Chemikalie‘ praktisch synonym mit Krebs, nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch unter Forschern.“

Doch durch die ausschließliche Fixierung auf Krebs, so die Autorin, seien frühere Hinweise auf Fruchtschädigung durch PCB jahrelang nicht weiterverfolgt worden. Dabei sei die Bedrohung durch die Hormonstörung viel größer: Krebs bedrohe immer nur Individuen, hormonstörende Chemikalien aber „können den Bestand ganzer Arten gefährden – vielleicht auf lange Sicht auch den Menschen“.

Auch mit dem Glauben an die totale Macht der Gene will Theo Colborn aufräumen: „Der eingebaute Genplan ist nur ein Faktor.“ Die Hormone sind für die Kommunikation im Körper zuständig. Das ist besonders kritisch in der Phase kurz vor und nach der Geburt. „Stell dir vor, jemand würde die Kommunikation während eines Hausbaus stören, so daß die Klempner nicht rechtzeitig das Kommando bekommen, die Rohre zu verlegen, bevor die Wände verputzt sind. Der Bau ist ebenso wichtig wie der Plan.“

Wie leicht die Hormone den Bau verändern können, zeigt der „wombmate“-Effekt: Mäuseweibchen, die im Mutterleib zwischen zwei Männchen liegen, sind später aggressiver als ihre Schwestern. Der Grund: Eine Woche vor der Geburt beginnen die Männchen, das Sexualhormon Testosteron zu produzieren. Allein durch ihre Nachbarschaft bekommen die Weibchen genügend von dem Hormon ab, um ihre Persönlichkeit zu verändern. Denn in der frühen Entwicklung des Babys reichen Hormone in der winzigen Konzentration von eins auf einer Milliarde Moleküle um eine aggressive Maus entstehen zu lassen. Das entspricht etwa der Menge von einem Tropfen auf einen vollen Tankwagen.

Nun reichern sich einige Chemikalien, allen voran Dioxin und PCBs, enorm im Fettgewebe an. Das betrifft besonders Tiere, die am Ende der Nahrungskette stehen, wie Adler und Alligatoren. Am Ende steht aber auch der Mensch. Der kanadische Forscher Béland fand gar 100.000 PCB-Moleküle auf eine Milliarde in einem seiner Belugawale, zehnmal mehr als nötig, um nach dem kanadischen Recht als Giftmüll zu gelten. Wäre dieser Wal ein Schiff, bräuchte er eine spezielle Genehmigung zum Transport von Sondermüll, um durch den Lawrence Fluß zu schwimmen.

Etwa 100.000 Chemikalien sind bereits auf dem Weltmarkt. Nur ein Bruchteil von ihnen wurde auf Giftigkeit getestet. Täglich kommen drei neue Substanzen dazu, bergen weitere potentielle Risiken. „Wir befinden uns im Blindflug“, urteilen die Autoren. Dazu gibt es Hinweise auf weitere schädliche Wirkungen hormonähnlicher Substanzen auf das Immunsystem und das Gehirn. Hinter dem Robbensterben 1988 in der Nordsee vermuten Forscher solche das Immunsystem zerstörende Viren. In Laborversuchen zeigte sich außerdem, daß die Entwicklung des Hirns von Ratten leidet, wenn sie während der Schwangerschaft PCB ausgesetzt sind. Bereits bei sehr kleinen Dosen wurden die Ratten übernervös, zeigten Lernschwächen und mangelnde Aufmerksamkeit.

Tatsächlich sind fünf bis zehn Prozent der amerikanischen Schulkinder zappelig und unkonzentriert – und lernen schwer. Colborn gibt zu, daß es hier noch mehr Fragen als Antworten gibt. Dennoch, sie beginnt zu spekulieren. Was wäre, wenn durch Hormonstörung der durchschnittliche IQ analog dem Spermawerten fiele. „Da mögen Schicksale warten, die schlimmer sind als das Aussterben.“

Theo Colborn, Dianne Dumanoski and John Peterson Myers: „Our Stolen Future. Are we threatening our fertility, intelligence and survival? – A scientific detective story“. Dutton/Pengiun Books, 1996, 307 Seiten, 24,95 Dollar