: Zweimal vier Stunden jeden Monat
Petra Sevrugian lebt in Berlin, ist gegen die Todesstrafe und engagiert sich bei amnesty. Jetzt kämpft sie für einen Todeskandidaten in Texas, der seine Frau umgebracht hat – sie hat sich in ihn verliebt ■ Von Vera Gaserow
Spätestens bei dieser Szene wird der Kinosessel beklemmend eng. Aus der ersten Reihe kommt unterdrücktes Schluchzen. Von der Leinwand ruft eine Männerstimme die makabre Ankündigung, die dem Film seinen Titel gegeben hat: „Dead man walking“. Der zum Tode verurteilte Häftling wird in die Hinrichtungszelle geführt. Reihenweises Kopfabwenden, als dem Gefangenen das Gift in die Adern dringt, beklommenes Schweigen, wenn nach dem Abspann das Licht angeht.
Petra Sevrugian hat „Dead man walking“ zweimal gesehen. Für sie war es ein Wiedererkennen von bekannten Situationen, verhaßten Örtlichkeiten und vertrauten Gefühlen. Eine Art Film im Film, in dem sie seit Jahren selbst agiert und dabei alles daransetzt, den Ausgang der Handlung doch noch zu verändern.
„Dear Petra, Hi, ich bin sehr erfreut, daß Du mir geschrieben hast. Du hast meinen Tag ein bißchen heller gemacht“ – das waren die ersten Zeilen, die sie im Dezember 1992 von dem Mann bekam, von dem sie bis dahin nur sein Alter, seinen Namen und eine Nummer wußte: John Alba, 41, Häftling 999027, zum Tode verurteilt im Gefängnis Ellis I Unit, Huntsville, Texas. Petra Sevrugian, mit Unterbrechungen seit ihrem sechzehnten Lebensjahr bei amnesty international aktiv, hatte ihm eine Weihnachtskarte geschrieben. So wie die Mitglieder der Gefangenenhilfsorganisation das weltweit seit Jahren tun. John Alba, der Gefangene 999027 aus dem Todestrakt in Texas, schrieb zurück. Die Kunsthistorikerin aus Berlin antwortete. Die Briefe wurden länger und häufiger, schließlich überkreuzten sie sich ohne eine Antwort auf die letzten Zeilen abzuwarten. Nach acht Monaten war für Petra Sevrugian klar, „daß sich da mehr abspielt als eine Brieffreundschaft“. Heute nach mehr als drei Jahren und einigen hundert Briefen sagt die 39jährige: „Er ist der Mann, mit dem ich zusammensein will. Ich kann mir keine Beziehung zu einem anderen vorstellen. Ich liebe ihn“.
Ganze Bataillone von emotionalen Antikörpern fahren auf gegen eine solche Feststellung: „Unmöglich“, mindestens aber gänzlich „spinnert“. Petra Sevrugian kennt all die Einwände und skeptischen Deutungen: Helfersyndrom, Faszination der Grausamkeit, Instrumentalisierung von weiblicher Hilfsbereitschaft, Flucht in ausweglose Beziehungen aus Bindungsangst. Nur sich selbst findet sie darin nicht wieder: „Ich bin nicht die Frau, die sich aufopfert. Ich lebe ein unabhängiges Leben mit Beruf, Freunden und politischem Engagement. Ich verzichte auf nichts, und ich kriege durch diese Liebe viel Schönes dazu. Ich habe von Anfang an den Gleichklang in unseren Interessen und Gedanken gespürt.“
Der Mann, über den sie das sagt, hat seine Frau umgebracht. Nach jahrelangem Streit und gewalttätigen Auseinandersetzungen hat John Alba seine Ehefrau erschossen. An die Tat und den anschließenden Schußwechsel mit der Polizei kann er sich kaum erinnern. Er war sturzbetrunken. Das Wissen jedoch, daß er einen Menschen umgebracht und damit seinen beiden kleinen Kindern die Mutter und den Vater genommen hat, ist ihm „unerträglich schmerzhaft“. Er weiß, daß er sich schuldig gemacht hat.
Als ein Gericht im Mai 1992 das Todesurteil verkündet und der Richter ihm die Standardfrage vorhält: „Haben Sie irgendeinen Grund, warum das Gericht dieses Urteil nicht aussprechen sollte?“, antwortet John Alba „Nein, Sir“. In seinem Gerichtsverfahren hat er nicht um sein Leben gekämpft – und seine Chancen wären auch gering gewesen. John Alba ist nicht 0. J. Simpson, er ist der unspektakuläre Normalfall unter den über 3.000 Todesgefangenen in den USA, die derzeit ein Leben auf Abruf führen. Wie die Mehrheit von ihnen ist Alba nicht weiß, er ist Hispanic, hat zuletzt als KfZ-Mechaniker gearbeitet und hatte – auch das der Normalfall – kein Geld für einen eigenen Anwalt.
Sein Pflichtverteidiger war unerfahren und wenig engagiert. Er hat nicht interveniert, als der Staatsanwalt Anklage wegen Mordes statt wegen Totschlags erhob, hat nicht auf verminderte Schuldfähigkeit plädiert, obwohl Alba zur Tatzeit heillos betrunken war. Er hat nicht protestiert, daß eine Jury aus 11 Weißen und einem Schwarzen über Leben und Tod eines Hispanic befand, und er hat nicht geltend gemacht, was jede Statistik belegt: daß die Todesstrafe in den USA vor allem eine Frage der Hautfarbe und des Geldes ist.
Als überzeugte Gegnerin der Todesstrafe hat Petra Sevrugian dem Gefangenen 99027 auf ihrer ersten Karte geschrieben: Was auch immer er getan habe, diese Strafe habe er nicht verdient. Daß sie sich jedoch in einen Mann verlieben könnte, der Gewalt gegen eine Frau ausgeübt hat, der seine Ehefrau aus verletztem Männerstolz umgebracht hat – dieser Gedanke war ihr unvorstellbar. Und wenn sie heute über Albas Tat spricht, dann klingt das so, als ob sie seine Person nur widerstrebend mit dem Verbrechen zusammenbringt: „Ich erlebe ihn als klugen, zärtlichen Mann, der über seine Tat reflektiert und sieht, welche traditionellen, machistischen Denkmuster dahinter standen. Die Tat ist nicht zu entschuldigen. Aber ich kann verstehen, wie es dazu kam. Er ist ja nicht als Verbrecher geboren. Die Leute im Todestrakt sind keine Monster. Es gibt sicher viele dort, wo ich sagen würde: Laßt sie nie frei. Aber das sind nicht nur Menschen, die gemordet haben, sondern auch Menschen, die sich verändern, die Verantwortung übernehmen und Freundschaften schließen.“
Drei Freundschaften, darunter die zur engsten Freundin, sind für Petra Sevrugian über die ungewöhnliche Beziehung in die Brüche gegangen. Doch die meisten Freundinnen und Freunde respektierten ihre Gefühle, sagt sie, „und viele Freundschaften haben sich vertieft“. Mit den Eltern hingegen kam es zum offenen, nach wie vor schmerzhaften Konflikt. Für ihren Vater ist John Alba „ein Mörder“, der „hingerichtet gehört“.
Achtmal ist Petra Sevrugian bisher in die USA gereist, um John Alba zu besuchen. Beim ersten Mal war sie aufgeregt wie vor einem Rendezvous. Als sie dann vor dem Gefängnis Ellis I Unit mit seinen Mauern, Stahltoren und Wachtürmen stand, hat sie geheult. Mit einem Schein für special visits darf sie John Alba zweimal vier Stunden pro Monat sehen, also legt sie ihre Reisen nach Texas jeweils ans Monatsende, um auch das Besuchskontingent für den Folgemonat auszunutzen.
Vier Stunden Besuchszeit, nach endlosen Kontrollen, unter strikten Auflagen, ohne Privatheit. Dicht an dicht sitzen die Gefangenen des Todestraktes und ihre Besucher sich gegenüber, durch eine Mauer von Drahtgeflecht hermetisch getrennt, nur in Augenhöhe bietet ein Streifen Panzerglas Blickkontakt. Jede Annäherung an die Glasscheibe wird von den Wärtern unterbunden. Berühren, selbst getrennt durch das Glas, streng verboten. Wie redet man in einer solchen Situation? Und worüber spricht man mit einem Menschen, dem die Hinrichtung droht? Über alles, lacht Petra Sevrugian, „es kann auch total fröhlich sein, wir lachen und kommen ins Erzählen“. Erzählen über den Alltag in Berlin, über Petras Arbeit im Museum, die gerade ausgelaufen ist, über die umstrittenen Thesen von Goldhagen zur Judenvernichtung oder über den Schmerz, daß ein Mitgefangener, ein guter Freund, gerade hingerichtet worden ist. Sie reden über das Essen in Ellis I Unit, das sich kürzlich als mit Viehfutter vermischt erwiesen hat, über die Buchhandlung in Huntsville, die es „nicht nötig hat“, ein Buch in den Todestrakt zu verschicken, und – auch darüber, über die drohende Hinrichtung.
Petra Sevrugian will dabeisein. John Alba hat das nicht erbeten, so wie er nichts von ihr verlangt, sondern sie bestärkt, an ihr eigenes Leben zu denken. Die Situation hinter der Glasscheibe mit Blick in den kühlen, gekachelten Raum mit der Pritsche wird unerträglich sein, das weiß Petra Sevrugian. Aber noch unerträglicher wäre es ihr, „ihn allein zu lassen“. „Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich hier sterbe“, hat John Alba, der Mann mit den dunklen, warmen Augen in dem breitwangigen Gesicht kürzlich gesagt, ich muß dem ins Auge sehen“.
Auch Petra Sevrugian hat versucht, dieser Situation ins Auge zu sehen. Die Stadt Huntsville, der Sitz des texanischen Todestrakts, bietet für jedermann und -frau die perverse Möglichkeit dazu. Die 25.000-Einwohner-Stadt lebt von ihren sieben Gefängnissen, in denen 10.000 Häftlinge eingesperrt sind. Wer will, kann beim örtlichen Tourismusbüro die „Prison-driving-tour“ buchen, Werbeslogan: „Wo das Abenteuer beginnt“. Eine Station ist das Gefägnismuseum, wo – bis vor kurzem noch auf rotem Samt – ein elektrischer Stuhl vorgeführt wird. „Old sparky“ – „alter Funkensprüher“ nennt man ihn hier, geradeso wie einen liebgewonnenen Familienangehörigen.
„Dead man walking“ – manchmal ist das Leben tröstlicher als ein Film. Im Fall von John Alba bietet es zumindest die kleine Chance, die Handlung zu beeinflussen. Petra Sevrugian hat einen Anwalt gewonnen, der Albas Berufungsverfahren führen will. Der Erfolg ist ungewiß, allzugroße Hoffnung naiv.
Doch Rechtsanwalt Anthony Haghton sieht zumindest Chancen, daß John Albas Todesstrafe in eine Zeitstrafe umgewandelt werden könnte. Ist die Berufung erst eingelegt, beginnt ein Kampf gegen die Zeit und ums Geld. 50.000 Dollar kostet das Verfahren. Die erste Hälfte davon hat Petra Sevrugian aus eigenen Ersparnissen und durch Sammlungen im Freundes- und Bekanntenkreis aufgebracht. Für die restliche Summe ist sie auf Spenden angewiesen.
Im US-Bundesstaat Georgia, dem Austragungsort der Olympischen Spiele, überreicht amnesty international heute 500.000 Protestunterschriften gegen die Todesstrafe in den USA. In verschiedenen Ländern werden Menschenrechtsgruppen an diesem Tag darauf hinweisen, daß 1995 im Land der „fröhlichen Spiele“ 56 Menschen hingerichtet worden sind – so viele wie nie zuvor seit Wiedereinführung der Todesstrafe in vielen Bundesstaaten in den letzten zwanzig Jahren.
In Berlin wird Petra Sevrugian dabeisein, wenn amnesty Flugblätter verteilt. Mit einiger Sicherheit wird sie die bunten Ohrringe tragen, von denen einige meinen, sie seien vielleicht doch etwas kitschig – so kitschig wie die Wanduhr in ihrem Wohnzimmer und die Schmuckkästchen, die in ihren Regalen stehen. John Alba, Häftling 999 027, hat sie aus Streichhölzern gebastelt, weil er Petra Sevrugian etwas schenken will – und weil verrückt würde, wenn er nur auf das wartete, was andere sich anmaßen, ihm zufügen zu dürfen.
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